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29.03.2024, 11:03 Uhr

Hartz IV: IG Metall fordert sozialpolitischen Neustart

  • 15.01.2010
  • Allgemein

Rund fünf Jahre nach Einführung von Hartz IV gerät das sozialpolitische Regelwerk zunehmend unter öffentlichen und politischen Druck. IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban geht im Interview auf einen besonderen Aspekt ein: Warum Hartz IV über die so genannten "Aufstocker" das Lohndumping fördert.

H. J. Urban - zuständig für<br>Sozialpolitik, Gesundheitsschutz<br>und Arbeitsgestaltung.

1,3 Millionen Beschäftigte in Deutschland müssen als so genannte "Aufstocker" trotz ihrer Erwerbstätigkeit zusätzlich Hartz IV beziehen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu könnnen. Nachfolgend das Interview dazu:

Fünf Jahre ist es her, dass die umstrittene Hartz IV-Reform in Kraft getreten ist. Die Bewertungen fallen sehr unterschiedlich aus. Wie lautet dein Urteil?

Hartz IV ist gescheitert. Das Hartz IV-System ist die Entwürdigung der Arbeitslosen und die Verängstigung der (Noch-)Erwerbstätigten.

Aber hat Hartz IV nicht doch Vermittlungserfolge gebracht?

Die Zahl der erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger lag Ende 2009 mit 4,9 Millionen auf dem gleichen hohen Niveau wie 2005. Drei Viertel der Betroffenen bezieht nach zwölf Monaten immer noch Hartz IV, nur ein Viertel schafft den Ausstieg. Von diesen findet wiederum nur knapp die Hälfte einen neuen Job. Wie viele Kritiker von Anfang an vorhersagten, hat Hartz IV das Problem der Arbeitslosigkeit nicht gelöst. Vielmehr hat Hartz IV in erster Linie dem Lohndumping Tür und Tor geöffnet. Rund 1,3 Millionen Beschäftigte sind heute "Aufstocker", das heißt, sie können von ihrem Job nicht leben und sind zusätzlich auf Hartz IV angewiesen.

Aktuell wird über Veränderungen bei Hartz IV diskutiert. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hält "Nachbesserungen" für nötig.

Im Prinzip ist es zu begrüßen, das Hartz IV auf den Prüfstand gestellt wird. Wofür die IG Metall aber nicht zur Verfügung steht, ist, dass Hartz IV im Kern bleibt, wie es ist und lediglich die Hinzuverdienstgrenzen angehoben werden. Das wäre unter dem Deckmantel der grundlegenden Prüfung die Ausweitung von Kombilöhnen und die Verfestigung des Niedriglohnsektors. Wir brauchen einen sozialpolitischen Neustart.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt vertritt die Ansicht, dass Hartz IV-Leistungen nur gegen Gegenleistungen erfolgen sollten und fordert die Anreize für Hartz IV-Bezieher für die Aufnahme einer Tätigkeit zu verstärken.

Wer heute noch wie Herr Hundt glaubt, Arbeitslosigkeit sei ein Anreizproblem, ist angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen entweder naiv oder ein Zyniker. Es fehlen schlicht existenzsichernde Arbeitsplätze. Dieses Grundproblem, das durch die aktuelle Krise verschärft wird, kann durch Zumutungen und Sanktionen nicht gelöst werden.

Welche Vorschläge hat die IG Metall?

Zu einer grundlegenden Revision von Hartz IV gehört im ersten Schritt, die Regelsätze auf mindestens 440 Euro zu erhöhen. Zudem brauchen wir neue Zumutbarkeitsregelungen, die vor Lohndumping schützen, anstatt es zu befördern: Die heutige Vermittlungspraxis gegenüber Langzeitarbeitslosen wirkt als Treibsatz für ungeschützte Leiharbeit und Niedriglöhne - dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Auch Langzeitarbeitslose müssen ein Recht auf tariflich gesicherte oder ortsübliche Löhne haben. Niemand darf gezwungen werden, zu Armutslöhnen zu arbeiten. Das ist auch eine Frage der Würde! Außerdem benötigen wir mehr Prävention, die das Abrutschen in Hartz IV von vornherein vermeidet. Deswegen fordert die IG Metall eine Beschäftigungsbrücke. Diese umfasst das Aussetzen der Rente mit 67, eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Ältere, die Förderung der Altersteilzeit und einen abschlagsfreien Renteneintritt mit 60 für alle, die 40 Versicherungsjahre haben.