Siemens Dialog
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18.04.2024, 06:04 Uhr

Neuorganisation: Keine Standortsicherung für Deutschland

  • 26.07.2011
  • Operativ

- unter diesem Titel veröffentlicht die Fraktion 'mitEINANDER' des Betriebsrats im Erlanger Stammhaus als Gastbeitrag im Siemens Dialog ihre Überlegungen zu Siemens' Neuausrichtung.

Nachfolgend der Artikel von mitEINANDER. Er versteht sich als Diskussionsgrundlage, zu der Stellungnahmen ausdrücklich erwünscht sind:

Die Neuausrichtung der Siemens AG orientiert sich an den Kunden: Der Sektor I bemüht sich mit der Ausrichtung auf Branchen um jeweils ein Gesicht für jeden Kunden. Der neue Sektor Infrastructure & Cities richtet sich an den neu entdeckten Kundenkreis der Städte. Das ist sicher nicht verkehrt. Eine Strategie für das zukünftige Geschäft in Deutschland ist das allerdings nicht.  Vor gut einem Jahr hat der Vorstand erklärt, dass Siemens seine Geschäfte auf die gro-ßen Wachstumsmärkte zur Industrialisierung der Schwellenländer konzentrieren will. Seit dem fordert der Gesamtbetriebsrat eine Strategie für die Siemensaktivitäten in Deutschland. Der Siemensvorstand hat das zwar zugesagt, aber bislang nicht geliefert.

Eine Deutschlandstrategie hätte
-    einer Stärkung der vorhandenen hohen Kompetenzen im Anlagen- und Großprojektge-schäft sowie
-    eines gezielten Ausbau der gerade in den hochindustrialisierten Ländern zu erwartenden Zunahmen im Geschäft mit qualifizierten Dienstleistungen bedurft.

Das Geschäft mit Großprojekten unterscheidet sich jedoch deutlich von anderen Ge-schäftsarten; nicht nur wegen der deutlich längeren Bearbeitungszeiten. Es verlangt weit über das technische Knowhow hinausgehende Kompetenzen, um die hohe Komplexität und die Integration vielfältiger  Fachkompetenzen und Kulturen zu bewältigen. Das kann nur in einem eigenständigen, auf diese Anforderungen ausgerichteten Sektor gelingen. Dazu braucht man einen etwas längeren Atem und den Mut, seine hohen Kompetenzen im Geschäft mit Großprojekten etwas vom Zwang zur quartalsweisen Optimierung zu befreien.

Die Neuorganisation geht offensichtlich in eine andere Richtung:

Kompetenzen für Großprojekte zersplittert
Auch nach der Neuorganisation bleiben die großen (Infrastruktur-)Projekte der Energieversorgung im Sektor E und die industriellen Großprojekte im Sektor I. Zusätzlich wird der Industriesektor I zukünftig im Kern nach Produktgruppen (Automation, Antriebe) organisiert. Mit Ausnahme der Metallbranche I IS MT werden alle industriellen Großprojekte - inkl. Mining - unterhalb der beiden Produktdivisionen auf deren jeweilige Branchensegmente verteilt.

Es mag ja sein, dass sich die Gewinnspannen dadurch etwas etwas mehr vom Produkt- aufs Anlagengeschäft verlagern. Größer werden die Spannen dadurch allerdings nicht; auf Sicht gesehen wahrscheinlich nicht einmal für das Anlagengeschäft. Denn die Rückfüh-rung des  Anlagengeschäfts in die „Kleinstaaterei“ der einzelnen Branchen vernichtet Synergien und Ergebnis.

Zumal wenn parallel dazu das bislang für viele industrielle Großprojekte gemeinsame Engineering der I IS MT PEP und I IS IN wieder auseinander gerissen wird. Das über viele Jahre insbesondere in der MT PEP erarbeitete hohe Niveau standardisierter technischer Funktionseinheiten und darauf aufbauender branchentypischer Paketlösungen wird über kurz oder lang von selbst zerfallen, weil wieder jeder nur für seine (Anlagen-)Geschäfte verantwortlich ist.

Egal was dazu heute im Einzelnen gesagt wird, unterm Strich wird das Geschäft mit industriellen Großprojekten auf diese Weise deutlich zurückgehen. Die Abwanderung weiterer Industrie-Kollegen in den Sektor Energy zeigen das bereits an.

Servicekompetenzen zerstreut
ür das Servicegeschäft gilt Ähnliches: Der einzige Servicebereich (I IS IN), der mit seinen Dienste bislang alle Sektoren in gleicher Weise unterstützt hat, soll mit der Neuorganisation auf die vier Sektoren und zumindest im Sektor I teilweise sogar noch darunter aufgeteilt werden.
Die betroffenen Kolleginnen und Kollegen mögen das ja als ein Aufrücken vom Dienstleister ihres bisherigen Auftraggebers in dessen Kernkompetenz empfinden. Mit einer Stärkung des Servicegeschäftes hat das allerdings nichts zu tun.

Pioniergeist vermisst
So warten wir denn weiter auf eine Aussage darüber, wie sich der Vorstand das zukünftige Siemensgeschäft in Deutschland und anderen bereits hochindustrialisierten Dienstleistungsgesellschaften vorstellt. Oder will man sich aus dem Geschäft mit Großprojekten zurückziehen, weil man vor den dabei immer wieder einmal auftretenden umfangreichen Verlusten kapituliert hat, statt das als Herausforderung zu betrachten? Mit Pioniergeist hätte das allerdings wenig zu tun.