Siemens Dialog
https://www.dialog-igmetall.de/nachrichten/rating-agenturen-hochgradig-grotesk
23.04.2024, 20:04 Uhr

Rating-Agenturen: "hochgradig grotesk"

  • 29.06.2011
  • Allgemein

Die Eurokrise droht, eine neue Finanzkrise zu entfachen. Auslöser und Treiber der riskanten Entwicklung ist nicht mehr als die Herabstufung der Kreditwürdigkeit Griechenlands durch Rating-Agenturen - profitorientierte Privatunternehmen ohne jede demokratische oder staatliche Legitimation. Nun gerät ihr Konzept selbst zunehmend in die Kritik.

Standard & Poor's in New York.

Alles andere als unfehlbar

Schon früher tauchte bisweilen die Frage auf, was eigentlich Rating-Agenturen ermächtigt, mit einem Federstrich Unternehmen oder ganze Volkswirtschaften ins Wanken zu bringen. Tatsächlich scheinen die selbsternannten Experten alles andere als unfehlbar in ihren Urteilen: Bis zum Platzen der amerikanischen Immobilienblase wurden damit verbundene Wertpapiere ebenso als grundsolide eingestuft wie windige Anlagen von Goldman Sachs oder die später zum Steuermilliardengrab mutierende BayernLB.

Wachsende Kritik

Derartige Auffälligkeiten haben seit der Krise das Interesse am Treiben der Agenturen, vor allem der drei amerikanischen Marktführer Standard & Poor's, Moody's Investor Service and Fitch Ratings, bei Politikern und Medien stark erhöht. Dabei wird angesichts zahlreicher weiterer Fehlurteile die Frage nach der Legitimation und der jenseits jeder Kontrolle betriebenen Aktivitäten lauter.

Die Kritik erfasst dabei längst auch in Wirtschaftsfragen durchaus konservative Kreise. Ein bemerkenswertes Beispiel liefert der Chefökonom der "Financial Times Deutschland", Thomas Fricke. Als Volkswirt und Politologe war er unter anderem mit Konjunkturprognosen beschäftigt, bevor er bei "Tagesspiegel", "Wirtschaftswoche" und "Manager Magazin" arbeitete.

"Stoppt die Ratingclowns"

Fricke nahm sich des Themas am 17. Juni unter der Überschrift "<link http: www.ftd.de politik konjunktur :kolumne-thomas-fricke-stoppt-die-ratingclowns _blank external-link-new-window ftd>undefinedStoppt die Ratingclowns!" an: "Es ist schon erstaunlich, was Ratingagenturen mit Verve so über den Zustand ganzer Länder von sich geben - in einer einzigen Note. [...] Und die schweifende Erklärung könnte auch vom Stammtisch kommen." Dem aktuellen Opfer Griechenland die selbe Note zu geben wie Jamaica und Pakistan bewirkt aus seiner Sicht vor allem, "dass es für Griechenlands Regierung trotz Radikalkur noch schwerer wird, bei Anlegern den Hauch eines neuen Vertrauens aufzubauen - und im Land noch Verständnis für weitere Reformen zu wecken." "Noch grotesker" findet er es, "wie demütig jedes noch so absurde Urteil demokratisch ungewählter Ratingagenturen gerade von jenen Abgeordneten aus Deutschland mitgenommen wird, die seit Monaten klagen, dass sie bei Rettungseinsätzen von Staaten künftig mehr mitbestimmen wollen".

Vollkommen falsche Prognosen

Im Fall Griechenland hat die folgsam verordnete Radikalkur, so Fricke, bislang vor allem "zum Einbruch von Konjunktur und Steuereinnahmen geführt - was die Ratingagenturen vollkommen falsch prognostiziert hatten". In Haftung genommen werden allerdings die Griechen, während die Agenturen unbeirrt von ihren Fehleinschätzungen munter weitermachen. Das weckt ganz erhebliche Zweifel auch an ihrem angeblichen Wissensvorsprung, den nicht nur Fricke für "in den meisten Fällen im Informationszeitalter gleich doppelten Unsinn" hält.

Zum einen, so die Überlegung, begannen die Agenturen Griechenland erst herabzustufen, "als selbst Tante Erna gehört hatte, dass Griechenlands Staatsdefizit 2009 höher war als vorher ausgewiesen"; zum anderen sind Beurteilungen von Staaten aufgrund der Vielzahl faktisch unvorhersehbarer Faktoren ihrer mittelfristigen Zahlungsfähigkeit im Grunde nicht möglich: "Auf zehn Jahre kann das in Wahrheit niemand auch nur ansatzweise wissen, wie Dutzende unvorhergesehene Wirtschaftswunder und abrupte Krisen zeigen - da hilft auch kein vermeintlicher Informationsvorsprung."

"Da kann man auch würfeln"

Die von drei Buchstaben suggerierte Genauigkeit der Ratings bewertet Fricke vor diesem Hintergrund als hochgradig grotesk: "Das funktioniert nur, wenn alle wie die Schäfchen dran glauben." Nicht von ungefähr herrscht allzu oft auch unter neutralen Ökonomen Uneinigkeit über Sinn und Unsinn bestimmter Maßnahmen: "Irlands Radikalkur galt bis Sommer 2010 noch als vorbildlich. Im Herbst musste das Land unter den Rettungsschirm. Da kann man auch würfeln, statt Agenturen zu fragen."

Fahrlässiges Hinterherlaufen

Zusätzlich beunruhigend ist die Bereitschaft vieler Politiker, "so wackligen Urteilen überforderter Finanzmärkte und Agenturen" hinterherzulaufen: "Es wäre dringend an der Zeit, Ratingagenturen aus Klauseln zu verbannen, in denen irgendwelche Anlageentscheidungen oder Garantien davon abhängig gemacht werden, welche Noten Pseudopropheten für ganze Staaten und ihre Menschen vergeben. Das könnte manchen Unsinn erübrigen."