Siemens Dialog
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27.04.2024, 06:04 Uhr

Deutsche Sprach, schwere Sprach…

  • 22.01.2010
  • Allgemein

Wigand Cramer kommentiert die Neujahrsbotschaft des Siemens-Vorstandsvorsitzenden an seine Beschäftigten.

 

Deutsche Sprach, schwere Sprach, denkt man unwillkürlich, wenn man die Neujahrsbotschaft des Siemens CEO an seine Schutzbefohlenen liest. Lautet doch der erste Satz wie folgt.

„Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

der Wechsel des Kalenderjahres und des Jahrzehnts lässt jeden von uns Revue passieren, was hinter uns liegt, mehr aber noch nach vorne blicken, mit welchen Erwartungen, Lasten, Vorsätzen und Plänen wir in die Zukunft gehen.“

Subjekt vs. Objekt resp. aktiv versus passiv  oder transitiv vs. intransitiv, da geht es munter durcheinander: Der Jahreswechsel läßt uns Revue passieren, na hallo, seit wann kann ein kalendarisches Ereignis uns (Herrn Löscher und die Seinen) antanzen resp. vorbeiziehen lassen? Gibt es in der Siemens Kommunikationsabteilung keinen, der wüßte, dass das „Revue passieren lassen“ in der Funktion eines Verbum als Subjekt den Betrachter im Nominativ verlangt, der aber im obigen Satz als Objekt im Akkusativ (jeden von uns) erscheint? Stattdessen wird der Anlaß, zurückzublicken (oder Revue passieren zu lassen), nämlich der Jahreswechsel grammatikalisch zum Betrachter, vor dessen Augen die Siemensieaner vorbeiziehen. Oder hätte nicht wenigstens einer erkennen können, daß der anschließende Nebensatz völlig in der Luft hängt? Scheint nicht der Fall zu sein.

Es könnte ja sein, daß dieser Lapsus dadurch entstanden ist, daß man die Botschaft des CEO zuerst in Englisch hatte und dann re-germanisiert hat. Die englische Grammatik gilt gemeinhin als weniger tückisch, aber auch hier hat nicht alles wirklich gut geklappt. Der Satz lautet so:

„Dear colleagues,

The transition to a new year and decade provides us with an opportunity to reflect on what has transpired, but even more so to look ahead and think of the expectations, obligations, plans and intentions that will accompany us into the future.”

Das Problem, wer da wen passieren lässt, ist im Englischen gelöst. Der Jahreswechsel gibt uns also die Gelegenheit, darüber nachzudenken, „on what has transpired, but even more so to look ahead… “

Dennoch stutzt der geneigte Leser erneut. Wir sollen reflektieren, wer oder was 2009 geschwitzt hat, bevor auf die Cancen und Möglichkeiten des Jahres 2010 vorausgeblickt wird? Ein Blick ins elektronische Wörterbuch (leo.org) hilft auch nicht weiter: to transpire: schwitzen, transpirieren, hinausdringen, durchsickern, (mit Akkusativ) sich herausstellen. Nachdenken über das, was durchgesickert oder herausgedrungen ist resp. sich herausgestellt hat? Seltsam. Erst der elektronische PONS schaft Abhilfe, indem er neben den oben genannten auch die folgende Lösung anbietet: transpire (occur): passieren, (mit Akkusativ) sich ereignen. Damit wäre klar, daß nicht verschwitzte Siemensianer vor dem Jahreswechsel vorbeiziehen sollen, sondern wir über die Ereignisse der Vergangenheit und die Möglichkeit der Zukunft reflektieren sollen. Hätte man das nicht, ob Deutsch oder Englisch gleich so sagen können? Allerdings meint  transpire im Sinne von occur ein eher zufälliges Passieren oder Sichereignen, im Deutschen sich herausstellen oder erweisen, womit wir wieder rätseln dürfen, ob den CEO bei der Abfassung seiner englischen Botschaft angesichts der Wirtschaftskrise ein gewisser Fatalismus befallen haben mag.
Anyway, there is room for improvement grammatic-wise.