Siemens Dialog
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10.05.2024, 09:05 Uhr

Das große Misstrauen

  • 13.12.2002
  • Konzern

Siemens-Mitarbeiter fürchten sich vor einem Übertritt in die BeE - Frist lief am 13. Dezember ab

Ein bitterer Galgenhumor prägte die Mitarbeiterversammlung in der Hofmannstraße (12. Dezember) zu den geplanten „Kapazitätsanpassungen“. Am 13. Dezember um 20 Uhr, lief die Frist für einen Übertritt in die beE ab, die ab 1. Januar 2003 in einem Siemens-Gebäude in der Garmischer Straße ihren Betrieb aufnehmen soll. Danach drohen Massenentlassungen durch betriebsbedingte Kündigungen.

Doch von den 864 Siemens-Mitarbeitern, die ein Angebot zum Übertritt in die BeE erhalten haben, hatten am Donnerstag bisher nur wenig über 100 Mitarbeiter unterschrieben. Ein professionelles Werbe-Video, ein bunter Siemens-Flyer mit dem Motto „BeE - gemeinsam für Ihre Zukunft“ und etliche Informationsveranstaltungen über die geplanten Qualifizierungsangebote in der BeE sollen die Mitarbeiter noch in letzter Minute zu einem Eintritt überreden - doch kaum einer wagt den Sprung ins Ungewisse.

Heribert Fieber, der BR-Vorsitzende, und Michael Leppek, Gewerkschaftssekretär der IG Metall, werteten die BeE auf der Versammlung als eine Alternative für jüngere Siemens-Mitarbeiter, die noch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Den übrigen Betroffenen empfahl Fieber von jetzt an systematisch Beweise zu sichern, was bei einer Kündigung aus dem eigenen Arbeitsplatz wird. Fieber eindringlich: „Glauben Sie mir, bei einer Kündigungsschutzklage werden Sie solche Unterlagen brauchen.“

Die betroffenen Mitarbeiter sind verängstigt und haben jegliches Vertrauen in ihre Führung verloren: Sie verstehen einfach nicht, wie die große Mutter, die Siemens AG, die im letzten Geschäftsjahr mit 2,6 Milliarden Euro den zweitgrößten Gewinn ihrer Geschichte einfuhr, jetzt den Bereich ICN, der lange imposante Gewinne einbrachte, in der Krise so hängen lassen kann. Weil das Management die Piererdoktrin „Quersubventionierung gibt es nicht!“, scheinbar unwidersprochen hinnimmt, mahnte Heribert Fieber die Betriebsleiter der Hoffmannstraße, sich doch noch ein eigenes Urteil zu den Entlassungen zu bilden: „Jeder, der hier einen Auftrag hat, hat auch eine Eigenverantwortung. Siemens hat es in der Hand, den Schaden zu beheben, statt ihn der Gesellschaft aufzudrücken“, sagte Fieber mutig und bekam dafür viel Beifall.

Der zweite wesentliche Punkt, der den Mitarbeitern nicht einleuchten will: Dass die Möglichkeit, siemensintern von ICN nach ICM zu wechseln schlichtweg untersagt ist. ICM hat seit einem Jahr einen generellen Einstellungsstopp, der auch in dieser Not-Situation nicht gelockert werden soll.

Der Imageschaden, der Siemens durch die Massenentlassungen droht, könnte jedoch gewaltig sein, auch wenn das gute Image der Firma dem Sprecher der Betriebleitung in der Hofmannstraße, Rolf-Dieter Kasch, besonders am Herzen liegt. „In Zukunft werden Kunden vielleicht eher ein Nokia- als ein Siemens-Produkt kaufen, denn Nokia hat ebenfalls Personal reduziert, aber ohne Entlassungen“, äußerte sich ein Mitarbeiter besorgt.

Genaue Zahlen darüber, wie viele Mitarbeiter aus der Hofmannstraße in die beE eingetreten sind, werden für Anfang dieser Woche erwartet. Heribert Fieber rechnet jedoch mit wenig Erfolg: „Der Eintritt in die BeE ist ein Sprung, zu dem viel Vertrauen gehört. Doch das Vertrauen in das Management ist weg“, so Fieber. Auf hartnäckige Nachfragen aus dem Publikum, ob mit ersten Kündigungen in den Weihnachtsferien gerechnet werden muss, sicherte der ICN-Personalchef Dr. Matthias Bellmann zumindest zu, dass es im Kalenderjahr 2002 keine Kündigungen mehr geben wird. Der Betriebsrat erwartet trotzdem kein besinnliches Fest: „Wir stehen auf Abruf bereit“.