Siemens Dialog
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10.05.2024, 06:05 Uhr

Es brodelt in der Hofmannstraße

  • 28.08.2002
  • Konzern

Kämpferische Stimmung bei Fortsetzung der ICN-Betriebsversammlung

Die vergangenen Freitag (23.8.) aus Zeitgründen vertagte Betriebsversammlung am Standort ICN Hofmannstraße wurde am 27. August wieder aufgenommen. Eine ungewöhnlich hohe Beteiligung zeigte, dass die Besorgnis in der Belegschaft wächst. Aus allen Gebäuden strömten heftig diskutierende MitarbeiterInnen in die schließlich bis auf den letzten Stehplatz besetzten Kasinos. Das einzige Thema der Gespräche war auch das der Versammlung: die Pläne zum Abbau von insgesamt 2.600 Stellen (2.300 ICN, 300 ICM). Wie sich dieser Abbau konkret auswirken würde, demonstrierte gleich zu Beginn der Versammlung eine Aktion des Betriebsrates. Auf jedem dritten Stuhl lag ein roter Zettel mit der Aufschrift „Dieser Platz wird gestrichen“. Auf Bitte des BR-Vorsitzenden Heribert Fieber standen die betroffenen Kolleginnen und Kollegen auf, um die Masse der bedrohten Stellen zu veranschaulichen. Die heftige Reaktion im Plenum unterstrich ebenso wie die von vielen getragenen Sticker mit der Aufschrift „Arbeitszeitverkürzung statt Kündigung“, dass die Belegschaft in seltener Einmütigkeit hinter dem Kurs des Betriebsrates steht. Schon auf den ersten Blick war klar: Dieses Mal wird sich die Unternehmensleitung nicht geräuschlos durchsetzen, Empörung und kämpferische Stimmung lösen die Mischung aus Resignation und Hoffnung bei manchen Angestellten mit wachsendem Schwung ab.

 

Eingangs fasste der Sprecher der Betriebsleitung Kasch nochmals kurz die Absicht der Betriebsleitung zusammen: der „langfristig veränderte Markt“ erfordere im Gegensatz zu einer „konjunkturellen Delle“ eine „langfristige Anpassung“ durch den rigorosen Stellenabbau. Kasch pries die „Vorteile“ der Beschäftigungs- und Auffanggesellschaften - Planbarkeit durch einjähriges Beschäftigungsverhältnis, potenzielle Weiterqualifizierung, Leiharbeit - in den höchsten Tönen und nannte sie eine „extrem gute Ausgangsposition“ auf dem Arbeitsmarkt. Bringe man das Konzept allerdings mangels freiwilliger Zustimmung „nicht zum Fliegen“, so Kasch weiter, müsse man auf betriebsbedingte Kündigungen (ohne jede Übergangshilfe) als „ultima ratio“ zurückgreifen; dies könne dann jeden treffen, ohne Blick auf Tätigkeit, Alter oder sonstige Kriterien. Diese kaum verschleierte Drohung ließ die eifrige Bemerkung, ICN werde keinesfalls „den Pfad der sozialen Verantwortung auch nur um einen Iota verlassen [sic]“, als reinen Hohn erscheinen, was offenbar jedem Anwesenden klar war: Eine gemurmelte Bemerkung im Publikum empfahl schlicht, Kasch solle „doch einfach nach Hause gehen“.

 

Arbeitszeitverkürzung als von Betriebsrat und Gewerkschaft ins Spiel gebrachte Alternativlösung tat Kasch als ungeeignetes „Mittel zur kurzfristigen Kostensenkung“ ab und erklärte, dadurch ließen sich nach seinen Informationen nur rund 17 Prozent der Kosten sparen - notwendig sei aber eine Senkung um 30 bis 40 Prozent. Der Konter folgte später durch einen Betriebsrat, der auf den überdurchschnittlich hohen Anteil von Angestellten mit 40 und mehr Wochenstunden hinwies und vorrechnete, dass sich allein hier das Einsparungspotenzial auf über 20 Prozent steigern ließe.

 

IG Metall-Sekretär Michael Leppek legte anschließend den Finger auf die offenkundigen Fehler in den Plänen des Managements: Beschäftigungsgesellschaften seien in der Regel ein Konzept für insolvente Unternehmen, nicht aber für Konzerne, die insgesamt noch ein deutlich positives Ergebnis ausweisen; ICN-Personalchef Bellmann selbst habe den Bedarf an Leiharbeitern aus einer Beschäftigungsgesellschaft auf nur rund 300 geschätzt; das Unternehmen wolle ohne Einmischung des Betriebsrats entscheiden, von wem es sich via Aufhebungsvertrag trenne; der aktuelle Arbeitsmarkt lasse Beschäftigungsgesellschaften weniger als sinnvolle Chance erscheinen, denn als Versuch der Firma, Mitarbeiter mit möglichst wenig Unruhe und Aufhebens loszuwerden; insgesamt sei dies ein Plan, bei dem die Beschäftigten außer 20 Prozent ihres Gehalts und sämtlichen betrieblichen Sozialleistungen auch noch ihre Zukunftsperspektive aufs Spiel setzen. Sein Fazit: „Unter diesen Bedingungen rät die IG Metall jedem Angestellten dringend von einem Aufhebungsvertrag ab und wird gemeinsam mit dem BR mit allen Mitteln gegen den Abbau vorgehen“ - eine Aussage, die den ersten Applaus der Versammlung erntete.

 

Heribert Fieber machte im Anschluss klar, dass auch der Betriebsrat sich der Überrumpelungstaktik nachdrücklich widersetzt. Während seines Erachtens Maßnahmen wie New Placement zumindest einen „Fallschirm“ für den Versuch bieten, ins Unbekannte zu springen, stellt sich ihm die Beschäftigungsgesellschaft so dar, als sage man den Betroffenen: „Springen Sie schon mal, wir versuchen derweil, unten ein Netz zu spannen“. Wer freiwillig den Konzern verlasse, um in einer Beschäftigungsgesellschaft „ein Jahr lang zu versuchen, auf einem vernagelten Arbeitsmarkt unterzukommen, der gehört da auch rein“, so seine saloppe Einschätzung ICN-Angebotes, die, geht man nach dem Echo im Publikum, von der Mehrheit der Beschäftigten geteilt wird.

 

Ein weiterer Kritikpunkt ist die zeitliche Planung. Die geplanten Maßnahmen wurden erst sechs Wochen vor der Deadline am 30. September bekannt gemacht, was Betroffenen - viele von ihnen obendrein im Urlaub - und Betriebsrat nur eine minimale Reaktionszeit lässt. Zudem fließen die Detailinformationen aus der Chefetage nach wie vor mehr als spärlich: Laut Fieber sollen bereits Namen festgelegt werden, bevor noch klar ist, in welchen Bereichen die Kapazität schrumpfen soll. Dazu blieben sowohl Kasch als auch MCH H-Personalchef Rinke die Antwort schuldig: Einerseits argumentierten sie mit der angeblich dringend gebotenen Eile bei der Umsetzung der Personalmaßnahmen und beharrten darauf, die Kürzungen seien ausschließlich am Portfolio orientiert - andererseits können sie derzeit nicht einmal ansatzweise die betroffenen Bereiche und Produkte benennen und wiederholten nur stur (von Pfiffen und Buh-Rufe begleitet), es könne prinzipiell jeden Mitarbeiter treffen. Fieber fasste dieses wenig durchdacht wirkende Vorgehen prägnant aus Sicht der Beschäftigten zusammen: Für sie sei es, als käme ein Vorgesetzter und sage „ich guck hier grad aus dem Fenster, Markt ist futsch, schleich’ Dich!“

 

Eines der heißesten Eisen, die aus dem Plenum in die Diskussion eingebracht wurden, war die Frage nach externen Consulting-Firmen. Interessanter Weise sieht sich die Betriebsleitung laut Kasch außerstande, auch nur grob zu beziffern, wie viele Personen auf diesem Wege für ICN tätig sind; nach voneinander unabhängigen Schätzungen verschiedener Betriebsräte bewegt sich ihre Anzahl zwischen 1.300 und 2.100. In jedem Fall offensichtlich: die Beschäftigten sehen nicht ein, warum es keine Arbeit mehr für sie, aber für Firmenfremde gibt; die Geschäftsleitung verfolgt ihrerseits rücksichtslos das Ziel, je nach Bedarf flexibel Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben, ohne in irgendeiner Weise soziale Verantwortung für sie zu übernehmen.

 

Unter dem Strich machte die Betriebsversammlung drei Punkte unmissverständlich klar: die Unternehmensführung beabsichtigt, ihren Kurs auf Biegen oder Brechen durchzuhalten; BR und IG Metall widersetzen sich nachdrücklich; die große Mehrheit der Belegschaft steht entschlossen wie selten hinter ihren Vertretern. Es ist offen, wie es nun weitergeht, die Zeit drängt jedenfalls. Heribert Fieber kündigte zum Ende der Versammlung an, bereits in wenigen Wochen die nächste ansetzen zu wollen. Nach Planung der Personalleitung sollen die jeweils zuständigen Vorgesetzten schon am neunten September beginnen, die Namen derer festzulegen, denen man einen Auflösungsvertrag anbietet.

 

(Hagen Reimer)