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10.05.2024, 02:05 Uhr

Leserbrief: Vorwürfe des Jugendwahns nicht haltbar

  • 01.08.2003
  • Allgemein

Leserbrief von ICN-Personalchef Matthias Bellmann

Zum Beitrag „Aus alt mach’ jung“ vom 28. Juli (siehe Link rechts oben) mailte uns Matthias Bellmann folgende Stellungnahme:

 

In Ihrem Artikel „Aus alt mach jung“ fordern Sie auf: „Schreiben Sie uns.“ Als Personalchef von Siemens ICN möchte ich diesem Aufruf gerne nachkommen, um zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen. Oder veröffentlichen Sie nur Positionen, die Ihrer Sichtweise entsprechen?

 

Die IG Metall und einzelne Mitglieder des Betriebsrats München Hofmannstraße werden nicht müde, zu behaupten, Sinn und Zweck des Stellenabbauprogramms von ICN sei eine Verjüngungskur. Der Konzern fahre damit einen „Frontalangriff gegen das Kündigungsschutzgesetz“ zitiert das Handelsblatt den Siemens-Beauftragten der IG Metall, Michael Leppek. ICN werde schon bald niemanden mehr über 50 Jahre beschäftigen, mutmaßen Sie in ihrer Mitgliederzeitschrift. Das Unternehmen wolle vor allem ältere Mitarbeiter ohne echte Chancen auf dem Arbeitsmarkt entlassen, moniert der Betriebsratsvorsitzende Heribert Fieber gegenüber der FAZ. Es werde gezielt versucht, vergleichsweise alte Mitarbeiter los zu werden, legt sein Stellvertreter Leonhard Mayer gegenüber der Süddeutschen Zeitung nach.

 

Dieses vermeintliche Vorgehen empört die Öffentlichkeit und führt zur internen Solidarisierung. Stichhaltige Beweise für ihre Behauptungen bleiben die Kritiker indes schuldig. Als Beleg verwendet etwa der Betriebsrat des Standorts Hofmannstraße eine Alterstatistik von 321 Mitarbeitern, die angeblich eine betriebsbedingte Kündigung erhalten haben. Tatsächlich bezieht sich diese Zahl auf die dem Betriebsrat im Januar 2003 überreichten so genannten Anhörungen. Eine betriebsbedingte Kündigung erhielten nach diesen Anhörungen 153 Mitarbeiter. Selbst, wenn die Zahl von 321 Mitarbeitern richtig wäre, so entspräche das 14 Prozent der vereinbarten Kapazitätsanpassung bei ICN Hofmannstraße. Und sogar diese Zahlen werden fehl interpretiert, indem der Betriebsrat München Hofmannstraße etwa behauptet, nur ein Drittel (33 Prozent) der ICN-Belegschaft sei älter als 45 Jahre. Tatsächlich sind es 42 Prozent. Beruhen solche irreführende Zahlenspiele auf mangelnder Recherche? Oder auf Unwissen? Oder ist es Kalkül, um Mitarbeiter, Politiker und Kirchenvertreter vor den eigenen Karren zu spannen? Mit aussagekräftigen Fakten lassen sich die Vorwürfe des Jugendwahns jedenfalls nicht halten.

 

Nach einer aktuellen Erhebung hat ICN vom Oktober 2002 bis Juni 2003 über 1.000 seiner rund 6.600 Stellen abgebaut. Dabei ist die Altersstruktur der Belegschaft unter 45 Jahren nahezu unverändert geblieben. Anders gesagt: Im Verhältnis zur Gesamtbelegschaft hat ICN nicht mehr jüngere Mitarbeiter als zuvor. Der Anteil der Mitarbeiter über 45 Jahre hat sich dem gegenüber sogar leicht erhöht. Der Prozentsatz der erfahrenen Angestellten mit 15 bis 39 Dienstjahren ist sogar um 9 Prozentpunkte gestiegen. Und zum Stichtag (30. Juni 2003) beschäftigte ICN 52 % weniger Berufsanfänger mit weniger als fünf Dienstjahren als neun Monate zuvor. Diese Zahlen zeigen, dass ICN den Stellenabbau bislang so betrieben hat, dass die bestehende Alterstruktur im Kern erhalten bleibt. Und wenn das gemeinsam mit dem Betriebsrat vereinbarte Abbauprogramm erst vollständig durchgeführt ist, wird diese Struktur der Belegschaft sogar nahezu exakt dem ursprünglichen Status entsprechen.

 

Matthias Bellmann

 

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Sehr geehrter Herr Bellmann,

 

wie Sie sehen, veröffentlichen wir selbstverständlich auch Positionen, die nicht unserer Sichtweise entsprechen.

 

Zu Ihrer Kritik:

Der Vorwurf, ICN fahre einen „Frontalangriff auf den Kündigungsschutz“ bezog sich auf die Strategie beim Stellenabbau insgesamt, mit all den Aspekten, die wir hier eigentlich nicht noch ein weiteres Mal wiederholen müssen.

 

Hinsichtlich der tatsächlichen Altersstruktur bei ICN kann ich Ihren Zahlen nicht widersprechen, allein schon mangels Zugang zu Ihren Erhebungen. Sie vergessen allerdings zu erwähnen, dass diese Struktur letztlich zu erheblichem Anteil eben auch aus dem Widerstand der Arbeitnehmervertreter resultiert. Mit anderen Worten: Wenn beispielsweise „nur“ 153 Kündigungen wirklich ausgesprochen wurden, liegt das doch unter anderem daran, dass einem Großteil der ursprünglichen Begehren mit guten Erfolgsaussichten widersprochen wurde. Wenn das gemeinsam mit dem BR vereinbarte Abbauprogramm nicht zu einer Verjüngung führt, bleibt daher die Frage offen, ob dies so ist, weil ICN eine Verjüngung nie wollte, oder weil ICN auf unerwartet heftigen Widerstand stieß.

 

Die im Beitrag „Aus alt mach’ jung“ erwähnten Angebote an Jubilare, nun eine Stelle in Greifswald oder an anderen Standorten anzunehmen, legt in vielen Fällen zumindest aus Sicht der Betroffenen die Vermutung nahe, man wolle sich ihrer nun auf einem Umweg entledigen. Diesen Verdacht verstärken Begleitumstände, die (ebenfalls zumindest nach dem subjektiven Empfinden des Einzelnen) an Schikane erinnern; wie die uns zugehenden Mails zeigen, herrscht verbreitet der Eindruck, man übe gezielt Druck aus, der das Verbleiben in der Hofmann- bzw. Zielstattstraße verleiden soll. Da diese MitarbeiterInnen verständlicherweise dringend auf absolut vertraulichem Umgang mit ihren Schilderungen bestehen, kann ich dazu leider keine konkreten Beispiele anführen - als Forum für Siemens-Beschäftigte können wir aber solche Zuschriften ebenso wenig ignorieren.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Hagen Reimer