Siemens Dialog
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27.04.2024, 21:04 Uhr

"Mit Menschen Prozesse bewegen"

  • 09.08.2004
  • Konzern

In einer durch den Trend beinah aller Unternehmen geprägten Zeit, möglichst viele Tätigkeiten in Länder mit niedrigeren Personalkosten zu verlagern, bildet Fujitsu-Siemens Computers (FSC) eine bemerkenswerte Ausnahme. Das 1999 entstandene Joint Venture von Siemens und der japanischen Fujitsu mit Sitz im holländischen Maarssen und rund 7.000 Beschäftigten entwickelt seine Produkte in den Bereichen Server, Professional Computers und Mobile Computing bis auf einen Standort in Kalifornien nur in Deutschland - und fertigt nach wie vor in Augsburg und dem thüringischen Sömmerda. Und zwar mit Erfolg: Trotz der Nachwehen in der IT-Branche schreibt man seit einem Jahr wieder schwarze Zahlen, die Position in einem hart umkämpften Markt verbesserte sich weltweit so stark, dass FSC heute unter den Top Drei der Branche mitspielt.

Der Siemens Dialog wollte wissen, wie FSC etwas schafft, das vielen anderen als Anachronismus gilt, und unterhielt sich mit Heribert Göggerle, dem Leiter des Augsburger Werks. Mit seinen rund 2.000 Mitarbeitern erhielt es im vergangenen Jahr mehrere Preise für seine zukunftsweisenden Strukturen, unter anderem den „Industrial Excellence Award“, vergeben für hervorragendes Supply Chain Management und Kundennähe von der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung, der französischen Managementschule INSEAD und der „Wirtschaftswoche“, sowie den „Wharton-Preis für unternehmensweite Transformation“. Göggerle ist neben seiner Funktion als Werksleiter zudem Managing Director Supply Chain bei FSC - angesichts der Erfolge des Unternehmens also genau die richtige Adresse für einen ausführlichen Blick auf moderne Wertschöpfung. Interessante Einblicke aus Sicht der Arbeitnehmer trug außerdem Otto Müller bei. Als Betriebsratsvorsitzender in Augsburg und FSC-Gesamtbetriebsratsvorsitzender hat er erfolgreich dazu beigetragen, die berechtigten Ansprüche der Unternehmensseite mit denen der Beschäftigten unter einen Hut zu bringen.

Siemens Dialog: Herr Göggerle, in einer Zeit, in der die meisten Unternehmen mit allen Mitteln versuchen, möglichst ihre gesamte Fertigung ins kostengünstige Ausland in Osteuropa oder Asien zu verlagern, hält Fujitsu-Siemens Computers an seinen zwei deutschen Werken in Augsburg und Sömmerda fest. Und macht vielen anderen, die diese Verlagerungen als Allheilmittel verkünden, vor, dass diese Rechnung aufgeht. Wie kommt das?

Heribert Göggerle: Wenn wir darüber nachdenken, ob eine Fabrik heute noch am Standort Deutschland wettbewerbsfähig ist, haben wir vier wesentliche Argumente herausgearbeitet:

Erstens müssen wir weg von dem begrenzten Blick auf Produktion und Logistik, auf das, was sich in der Fabrik tut, und statt dessen auf die Supply Chain E2E [End-to-End] schauen - also vom Kundenauftrag bis zu dem Moment, in dem die Ware beim Kunden ankommt. Die Produktivitätsstrecke und der Added Value sind viel größer als eine Fabrik mit den Menschen, die sich hier bewegen. Man muss also die Supply Chain-Optimierung mit dem Kunden gemeinsam darauf fokussieren - und da ist auch unser Motto „We Make Sure“ zu finden -, zu halten, was wir dem Kunden versprechen.

Zweitens kann man das, was wir wollen, nur mit Menschen machen, die eine gute Qualifikation besitzen und die Motivation und Flexibilität beweisen. Das haben wir hier mit dem Betriebsrat und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geschafft, nicht ad hoc, sondern in einer langfristigen Entwicklung über die letzten Jahre.

Drittens beziehen wir heute ca. 80 Prozent der PC- und Server Gehäuse aus China und customizen sie in unseren Fabriken, im letztmöglichen Moment, mit preisintensiven Materialien entsprechend den Kundenaufträgen [Build-to-Order-Prinzip]. Dieses Wertschöpfungskonzept ist die Voraussetzung dafür, dass wir kostenoptimiert (Mischkalkulation) und zeitoptimiert liefern.

Viertens liegt Innovation im wesentlichen nicht nur an Produkten, sondern auch in Prozessen. Wir untersuchen permanent, was in der Supply Chain vom Supplier in Asien bis in den Fabriken geschieht: wie viele Prozesse laufen ab, wie viele Dienstleister nehmen da etwas in die Hand, wie können wir das optimieren. Da gibt es enorm viel Rationalisierungspotenzial, zum Beispiel die Gestaltung von Verpackungen: Wie viele PC passen in einen Seecontainer, was kann man anschließend mit der Verpackung machen, das Thema Umwelt, da gibt es Möglichkeiten ohne Ende. Das Thema Produktivität bedeutet also für uns, immer wieder nach neuen Möglichkeiten zu suchen, die unsere Kosten essentiell senken. Wir haben eine jährliche Produktivitätssteigerung zwischen zehn und 15 Prozent, je nach Produkt.

Siemens Dialog: Ihre Mitbewerber, etwa Dell oder HP-Compaq, haben bei Funktion und Bedarf der Produktion grundsätzlich ähnliche Strukturen, erledigen aber die Montage in Mexiko, Irland, Brasilien usw., und haben zumindest in den Personalkosten dort auch Vorteile, die man nicht kleinreden kann. Die Prozesse, wie Sie sie gestalten und optimieren, könnte man rein physisch doch auch woanders langlaufen lassen. Warum ist das für Sie kein Thema?

Heribert Göggerle: Bei einem Desktop PC betragen die Materialkosten etwa 85 Prozent der Herstellkosten. Bei der restlichen Wertschöpfung von 15 Prozent betragen die reinen Lohnkosten ca. zwei bis drei Prozent. Daher liegt in der Produktion der Fokus auf Flexibilität und Qualität. Unser Produktivitätsansatz bezieht sich daher darauf, mit den Menschen die Prozesse End-to-End zu bewegen, das ist der große Punkt! Durch diese Flexibilität können wir einen Desktop PC innerhalb von sieben Tagen an den Kunden ausliefern.

Siemens Dialog: Das heißt, die kurzen Wege zum Verbraucher erweisen sich nach wie vor als handfester Vorteil?

Heribert Göggerle: Genau, aber wir sehen da die Produktion nicht isoliert, sondern in der kompletten Wertschöpfungskette inklusive Forschung und Entwicklung (F&E). Die Illusion, Produktion nach Osteuropa zu geben, und zu meinen, man könne dann im Rest der Welt Dienstleistung und F&E halten, ist falsch - wenn die Produktion abwandert, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann auch F&E abwandert. Deutschland ist kein Standort für Dienstleistungen, dafür sind wir viel zu teuer. Unsere Chance muss sein, den Zusammenschluss aus Produktion und F&E zu halten, und Innovationen voranzutreiben. Dazu habe ich gerade einen Ausspruch von Otto Wiesheu gelesen, der sagte, „... wir müssen durch Innovation um so viel besser sein, als wir teurer sind...“.

Siemens Dialog: Habe ich das eben richtig verstanden - vom Endpreis machen allein die Materialkosten 85 Prozent aus?

Heribert Göggerle: Richtig, aber das ist natürlich branchenorientiert unterschiedlich. Wenn Sie zum Beispiel die Automobilbranche nehmen: Die muss sehen, wo sie neue Märkte entwickeln will und dort vor Ort sein, außerdem hat sie eine wesentlich höhere Wertschöpfungstiefe. Meine Aussage trifft daher auf die IT-Branche zu, aber das kann etwa in der Automobilbranche ganz anders sein. Man muss individuell prüfen, ob eine 40-Stunden-Woche zum Nulltarif eine sinnvolle Alternative ist.

Siemens Dialog: Und wo hat FSC seinen Hauptmarkt?

Heribert Göggerle: 40 Prozent in Deutschland, 60 Prozent international, und davon noch einmal zirka 70 Prozent innerhalb der Europäischen Union.

Siemens Dialog: Sie haben die 40-Stundenwoche erwähnt. Dass der Tarifvertrag, so wie er ist, genügend Raum für Flexibilität bietet, wenn man ihn sinnvoll anwendet, ist ja etwas, womit vor allem seine Befürworter in den Gewerkschaften argumentieren. Sie kommen offensichtlich sehr gut klar damit, wie muss man sich das konkret vorstellen, zum Beispiel bei Auftragshochs oder -tiefs?

Heribert Göggerle: Wir haben im wesentlichen nur im Consumer-Geschäft eine starke Saisonalisierung der Kundenaufträge. Im kurzfristigen Bereich schwankt jedoch der tägliche Auftragseingang bis zu plus-minus 150 Prozent. Wir passen unsere Kapazität an, dazu gehört die Integration der Lieferanten. Damit stellen wir sicher, dass die optimierte Materialversorgung abgedeckt ist. Alles andere hängt dann von unserer Flexibilität ab, in der wir viele Modelle haben: arbeiten entweder im Zwei- oder im Drei-Schicht-Betrieb, Schichten mit sechs oder acht Stunden, fünf oder sechs Tage die Woche; all das entscheiden wir fast jeden Tag. Wir sagen also zum Beispiel „Morgen und übermorgen arbeiten wir acht Stunden, aber am Freitag nur sechs.“ Die Flexibilität der Menschen ist praktisch auf einen täglichen Rhythmus eingestellt.

Siemens Dialog: Dieses System der kurzfristigen Entscheidungen kommt regelmäßig zum Einsatz und funktioniert?

Heribert Göggerle: Ja, so machen wir das, das hat sich so eingespielt. Das ist selbstverständlich nicht von Heute auf Morgen entstanden, sondern in einem Prozess, den wir geschaffen haben. Dazu kommen einige Kombinationsmöglichkeiten, die das noch forcieren: Einen Prämienlohn, der 20 Prozent des gesamten Lohns ausmacht und auf einer bestimmten Zahl basierend bezahlt wird, nämlich Stück mal Zeit. Wenn der Mitarbeiter also nichts zu tun hat, weiß er, dass er auch keinen Prämienlohn erhält. Folglich geht er lieber nach Hause und versucht die Zeit sinnvoll zu nutzen, dafür ist er aber morgen wieder da, wenn der Kessel unter Dampf steht. Das Modell ist ein Beispiel für die vielen Betriebsvereinbarungen, die wir für die Flexibilität haben.

Otto Müller: Wichtig ist dafür natürlich auch der Informationsfluss: Der Meister muss wissen, was in den nächsten Tagen auf sie zukommt, und es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern natürlich auch sagen.

Siemens Dialog: Sie haben angesprochen, dass die Prozesse in Verbindung mit den Suppliern, die z. B. aus China liefern, sehr präzise abgestimmt sein müssen. Wie lange hat es gedauert, bis diese Feinabstimmung so etabliert war, dass sie ausreichend effektiv wurde?

Heribert Göggerle: Das ist ein permanenter Prozess. Wir haben präzise IT-Systeme [SAP und I2], aber die Menschen müssen damit arbeiten und wissen, was sie mit einer Dateneingabe auslösen. Die Menschen müssen die Daten inhaltlich transparent und auf einem hohen Niveau halten, das ist das Entscheidende.

Siemens Dialog: Auch wenn all diese Informationen stimmen, müssen sich die Materialien doch noch physikalisch bewegen, etwa das Gehäuse aus China ans Hallenende hier in Augsburg, ein Weg, der auch noch dauert ...

Heribert Göggerle: In einer globalen Wirtschaft wird dies zum Standard. Nur das, was schwer ist oder viel Volumen hat, also etwa das Gehäuse, kommt per Schiff zu uns. Alles andere kommt mit dem Flugzeug an. Das Entscheidende ist insgesamt, dass alle am Prozess Beteiligten im Netzwerk zusammenarbeiten. Das ist etwas, was wir heute in der Gesellschaft so zu wenig haben - dass Wissenschaft, Wirtschaft, Universitäten und Staat miteinander arbeiten. Dadurch, dass alle im Netzwerk an den gleichen IT-Systemen miteinander arbeiten, gibt es unglaubliche Kommunikationsvorteile. Natürlich entstehen auch Ängste bezüglich der Informationen, die für jeden einsehbar sind; man muss viele dieser Ängste abbauen, beispielsweise, dass der Lieferant genau weiß, was sich bei uns bewegt. Nur wer das alles schafft, kann auch innovativ sein.

Siemens Dialog: Wie wirken sich die Kosten aus, die dadurch entstehen, dass Sie das Material per Flugzeug transportieren lassen?

Heribert Göggerle: Natürlich sind Flugkosten hoch, das ist gar keine Frage. Aber die Geschwindigkeit spielt nun einmal eine wichtige Rolle, und es zählt natürlich auch der Preisverfall. Es hilft eben nicht, eine Harddisk sechs Wochen auf dem Schiff zu haben, und übermorgen ist sie dann schon zehn Dollar billiger.

Siemens Dialog: Was die Qualität betrifft, sind Sie der Ansicht, dass Sie sich durch das Personal hier vor Ort leichter tun, Ihre hohen Standards zu erfüllen?

Heribert Göggerle: Das spielt eigentlich keine sehr große Rolle mehr. Wenn man heute nach Shanghai geht, findet man da genauso qualifizierte Firmen und Menschen. Das Thema Qualifikation ist meines Erachtens an jedem Standort ähnlich; das Thema Motivation und Flexibilität dagegen ist nicht überall das gleiche.

Siemens Dialog: Sie haben die Nähe zwischen F&E einerseits und Produktion andererseits erwähnt. Häufig wird pauschal gesagt, diese Nähe spiele auf Grund der modernen globalen Kommunikationsmittel - Breitband-Internet, Concurrent Engineering usw. - eigentlich keine Rolle mehr. Machen Sie die Erfahrung, dass dies anders ist?

Heribert Göggerle: Ich glaube schon, dass das noch eine Rolle spielt. Die Entwickler müssen vor Ort sein, coachen, Einfluss nehmen können. Wir machen das auch, wenn wir etwa in Asien teilweise Entwicklungsaufträge vergeben, müssen wir auch vor Ort sein und coachen. Die Illusion, man könne einfach ein paar Mails verschicken und am dreißigsten ist das Produkt fertig entwickelt, ist falsch, da muss man schon mehr investieren. Wir entwickeln hier in Augsburg zum Beispiel sehr erfolgreich unsere Motherboards - FSC ist eine der wenigen europäischen IT-Firmen, die Motherboards noch selbst produzieren.

Hartwig Wägner [Personalchef des Augsburger Werks]: Man muss allerdings auch sagen, dass wir hier eine ganz besonders enge Symbiose von Fertigung und Entwicklung haben, das macht in der fertigungsnahen Entwicklung auf jeden Fall Sinn; anders wäre das vielleicht bei tieferer Entwicklung, dort könnte man sich das auch anders vorstellen.

Otto Müller: Dazu muss man auch noch das Qualitätsbewusstsein der Mitarbeiter betrachten, die durch den Umgang mit den Entwicklern einen Sinn für Qualität bekommen, ohne dass man ihnen ständig noch extra nahe legen muss, darauf zu achten.

Heribert Göggerle: Wir haben deswegen auch keine große Qualitätsabteilung. Wir haben es geschafft, bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Verantwortung für Qualität als Unternehmensziel zu verankern.

Siemens Dialog: Also kommt es in der Praxis vor, dass jemand in der Fertigung plötzlich sagt, „Stopp, da stimmt etwas nicht, das ist nicht sinnvoll, da müsste etwas anders sein“?

Heribert Göggerle: Ja, das kann vorkommen. Wir machen immer zuerst eine Pilotserie, und erst wenn alles stimmt, geht der eigentliche Serienlauf los.

Otto Müller: Es ist zum Beispiel vorgekommen, dass eine Kollegin in der Fertigung bei einem Teil auf dem Gehäuse festgestellt hat, „Moment, hier gibt es ein Problem. Da steht ein Blechteil über. Das ist eine permanente Verletzungsgefahr beim Montieren.“ Und in ganz kurzer Zeit, maximal einer Stunde, konnte man das Problem schon lösen.

Siemens Dialog: Zum Schluss eine Frage, die angesichts dessen, was Sie erklärt haben, schon fast rhetorisch ist: Welche Rolle spielt die Kommunikation in diesem komplexen System fortwährender Prozessoptimierung?

Heribert Göggerle: Die Kommunikation ist ein ganz wesentlicher Teil der gesamten Prozesse und der Prozessveränderung. Es ist nicht damit getan, dass man die Informationen zur Verfügung hat, sondern man muss die Zahlen, Ziele und Abweichungen mit den Menschen besprechen, einen Dialog führen. Andererseits brauchen wir immer wieder das Feedback vom Mitarbeiter, aus dem Service und vom Markt - was können wir verbessern, was anders tun? Da reicht nicht ein tolles IT-System, sondern man muss mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Ergebnisse besprechen, einschließlich der Zielerreichung. Und das haben wir hier, glaube ich, geschafft.