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29.04.2024, 07:04 Uhr

„Neue Stufe der Demotivation“

  • 14.11.2002
  • Konzern

Hofmannstraße: Wachsender Druck bei Umsetzung der Vereinbarung schockiert Belegschaft

„Neue Stufe der Demotivation“

Die Betriebsversammlung am Standort Mch H erweckte am Donnerstag den Eindruck, die Belegschaft stände noch mitten im Kampf gegen die Kapazitätsanpassung. Vor sichtlich aufgewühlten und erregten Arbeitnehmern sprach BR-Vorsitzender Heribert Fieber von einer „neuen Stufe der Demotivation“, Stellvertreter Leo Mayer sah „die Treibjagd eröffnet“ -das ganze, nachdem doch eigentlich nun endlich Klarheit und Sicherheit das Chaos ablösen sollten.

 

Nach dem ersten Schock im August, den harten Auseinandersetzungen danach und schließlich der Vereinbarung Ende Oktober hatte man eigentlich bereits das Licht am Ende des Tunnels gesehen. Der in zähem Taktieren erzielte Kompromiss, eine Kombination aus modifizierter Beschäftigungsgesellschaft, Arbeitszeitverkürzung und ergänzenden Maßnahmen, ließ die Belegschaft aufatmen. Auch das Management bis hin zum Wittelsbacher Platz schien zufrieden, nicht von ungefähr hat man IC-Vorstand Thomas Ganswindt, den „Sanierer mit harter Hand“ (SZ), soeben in den Zentralvorstand berufen.

 

Noch bevor die Vereinbarung in der Endfassung vorliegt, erschüttert nun eine neue Welle der Empörung die Hofmannstraße. Die Firmenleitung hat am Montag begonnen, den zur Disposition stehenden MitarbeiterInnen den Übergang in die betriebsorganisatorisch eigenständige Organisation (beE) beziehungsweise einen Aufhebungsvertrag anzubieten. Parallel dazu nehmen einzelne Vorgesetzte, scheinbar ohne klar vorgegebene Richtlinien, das Heft in die Hand und greifen zu teilweise drastischen Maßnahmen.

 

Schon das Anschreiben hat es in sich: Der Betreff lautet „Beendigung Ihres Arbeitsverhältnisses“, nach einer knappen Einleitung kommt dann, optisch hervorgehoben, der lapidare Kernsatz: „Aufgrund dieser Maßnahmen entfällt Ihr Arbeitsplatz“. Es folgt das Angebot, in die beE zu wechseln oder einen Aufhebungsvertrag zu unterschreiben. Den Schluss macht eine als Hinweis kaschierte Drohung: „Sollten Sie sich bis zum 13. Dezember 2002 für keine der angebotenen Alternativen entschieden haben, müssen Sie mit einer betriebsbedingten Kündigung Ihres Arbeitsverhältnisses zum nächstmöglichen Zeitpunkt rechnen“. Ein Musterstück technokratischer Taktlosigkeit, und zudem tendenziell irreführend – Stil und Ausdruck erwecken weniger den Eindruck eines Angebots als den einer Kündigung, erkennbare Hinweise auf die durchaus mögliche Ablehnung oder noch so unbeholfene Versuche einer Abmilderung fehlen gänzlich.

 

Damit nicht genug lassen zahlreiche eifrige Vorgesetzte es sich offenbar nicht nehmen, den Betroffenen schnellstmöglich klar zu machen, dass sie unabhängig von ihrer Reaktion auf das Angebot ab sofort an ihrem Arbeitsplatz unerwünscht sind. Im Plenum der Betriebsversammlung häuften sich die selben Beschwerden wie zuvor beim BR. Vorgesetzte drängen zu zügigem Unterschreiben, Mail-Accounts werden innerhalb von Stunden gesperrt, es gibt keine Arbeit mehr, System- und Intranetzugänge sind plötzlich geschlossen. Hinzu kommt offenbar in vielen Fällen die unmissverständliche Aufforderung, so oder so am nächsten Tag nicht mehr zu erscheinen – ohne jede Rechtsgrundlage. Unter dem Strich wird den Betroffen de facto häufig nicht etwa vereinbarungsgemäß ein Angebot unterbreitet, auf das sie mit der erforderlichen Sorgfalt reagieren können, sondern man macht ihnen auf die harte Tour klar, dass sie an ihrer gewohnten Stelle von heute auf morgen nichts mehr zu suchen haben. Leo Mayer nahm in seiner Bewertung besonders krasser Fälle kein Blatt vor den Mund: „Hier handelt es sich um Verstöße gegen die Menschenwürde“. Einen weiteren rechtlichen Aspekt sieht Wolfgang Müller (IG Metall) berührt. Die erwähnten Vorgänge und radikalen Methoden erfüllen demnach möglicherweise einen Straftatbestand nach § 119, Absatz (2)2. des Betriebsverfassungsgesetzes (Behinderung der Tätigkeit eines Betriebsrats).

 

Über Details und einzelne Kriterien herrscht verbreitet Unklarheit. So ist etwa über die beE bisher ebenso wenig genaueres bekannt wie darüber, was konkret mit denen geschieht, die das Angebot nicht oder noch nicht annehmen wollen. Der BR ist nach wie vor nicht darüber informiert, welche Produkte und Aktivitäten reduziert oder eingestellt werden, obwohl die Firmenleitung dies von Anfang an zur Basis jeder Abbauentscheidung erklärte; auch das Angebotsschreiben bezieht sich eingangs wiederum als Begründung auf den Entschluss, „Produktgruppen, Produktlinien, einzelne Produkte, Projekte und zentrale Aufgaben nicht mehr fortzuführen“. Zu guter Letzt keimt bereits jetzt der Verdacht auf, der Druck zum Wechsel in die beE beziehe sich besonders auf die Altersgruppe der 48 bis 54jährigen. Die getroffene Vereinbarung hingegen sieht vor, in ihr ausschließlich Beschäftigte unterzubringen, die eine reale Chance auf eine neue Stelle haben, angesichts des desolaten Arbeitsmarkts ein eklatanter Widerspruch.

 

In Einzelfällen haben bisher auch schon Mitarbeiter mit besonderem Kündigungsschutz, zum Beispiel Schwerbehinderte, das Angebot erhalten. Unternehmenssprecher Kasch hatte derlei Pannen schon am Vortag bei einer Versammlung in der Machtlfinger Straße mit einem peinlichen Eingeständnis kommentiert: „Da mögen ein, zwei Ausrutscher dabei gewesen sein“. Einen weiteren Sonderfall bilden Greencard-Inhaber, unter denen es gleichfalls etliche Abbau-Kandidaten gibt. Ihnen macht neben der Verwirrung über ihren genauen arbeitsrechtlichen Status und entsprechende Folgen des Stellenverlusts noch die Sprachbarriere zu schaffen.

 

Betriebsrat und Gewerkschaftsvertreter weisen in dieser Situation auf Punkte hin, die jeder beherzigen sollte, dem das „unanständige Angebot“ (ein Mitarbeiter im Plenum) unterbreitet wird:

 

+ Auffälligkeiten und Ungereimtheiten bei der Umsetzung der Vereinbarung sollten dem BR mitgeteilt werden, damit dieser eingreifen kann.

+ Niemand kann gezwungen werden, das Angebot anzunehmen und einen entsprechenden Vertrag zu unterschreiben. Das Drängen zu übereilten Entscheidungen durch Vorgesetzte hat keine rechtliche Grundlage.

+ Bei Zweifeln oder Unsicherheit sollte man grundsätzlich die Beratung durch BR, andere mittlerweile am Standort vertretene Gruppen und/oder einen Rechtsbeistand in Anspruch nehmen.

+ Alle Beschäftigten sind aufgerufen, sich weiter so solidarisch zu verhalten wie bisher und vor allem der Ausgrenzung Betroffener entgegenzutreten.

 

Nach drei Stunden beendete Fieber die Betriebsversammlung. Eine Menge Fragen sind noch offen, so dass schon demnächst eine Fortsetzung stattfinden wird.

 

(Hagen Reimer)