Siemens Dialog
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04.05.2024, 12:05 Uhr

"Reflexhafter Widerspruch"

  • 07.01.2005
  • Allgemein

Wenn es um Argumente für Offshoring und Gründe für das schwache Wachstum insgesamt geht, verweisen Unternehmen gern auf allzu hohe Steuern, unter denen sie in Deutschland angeblich ächzen - doch der Mythos bröckelt.

Beim Klagen über die Steuerbelastung deutscher Unternehmen steht der Bundesverband der Deutschen Industrie in vorderster Linie, woran sich auch unter Michael Rogowskis Nachfolger Jürgen Thumann nichts ändern dürfte. In einem Grundsatzpapier zur Unternehmensbersteuerung vom Oktober 2004 erklären DIHK,  BDI, ZDH, BDA und vier weitere Verbände vollmundig: "Internationale Vergleiche belegen: Deutschland hat in Europa und weltweit mit die höchste Unternehmenssteuerbelastung."

Gemeint ist damit der nominale Steuersatz von knapp vierzig Prozent, mit dem Deutschland in der Tat international eine Spitzenposition einnimmt. Was die Verbände allerdings wohlweislich ignorieren, ist die Höhe der effektiven Besteuerung, die im Zuge der Diskussion um die deutsche Wirtschaft zunehmend ins Interesse der Medien rückt. Hier ergibt sich ein gänzlich anderes Bild, das die Mär vom omnipräsenten Hemmschuh "Unternehmenssteuer" gründlich ins Wanken bringt. Der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass (Bild) kommt zu dem Schluss, dass die effektive Steuerlast für Unternehmen trotz mittlerweile wieder deutlich wachsender Gewinne bei gerade einmal rund zehn Prozent liegt.

Der Stanford-Absolvent ist dabei nicht etwa ein sozialromantischer Sonderling, sondern international renommiert: Institutionen wie das Europäische Parlament, die OECD (Organisation for Economic Co-Operation & Development) und der Bundestag konsultieren ihn seit Jahren regelmäßig als Experten für Steuern und Finanzen; von 1998 bis 2000 war er Mitglied der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung. So verwundert es wenig, dass er mit seiner Einschätzung nicht allein steht - auch EU-Kommission und OECD kommen bei der Einschätzung der effektiven Steuerbelastung für Unternehmen in Deutschland mit 21 Prozent nur auf die Hälfte des theoretischen Satzes, über den die Unternehmen klagen.

Beim BDI führen diese Berechnungen verständlicherweise zu "reflexhaften Widerspruch" (Der Spiegel, 51/2004). Im Dickicht des komplizierten Steuersystems finden sie ausreichend Schlupflöcher, um auch erfreulich hohe Gewinne wirkungsvoll vorm Zugriff des Fiskus zu schützen. In einem Interview mit der Tagesschau empfiehlt Jarass denn auch sicherzustellen, dass "auf die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen tatsächlich so viele Steuern gezahlt werden wie in allen anderen EU-Ländern auch. Wenn wir die Belastung von im Durchschnitt 21 Prozent auf die untere Grenze von 28 Prozent anheben würden, hätten wir etwa 30 Milliarden Euro Steuern-Mehreinnahmen", eine Summe also, die Hans Eichel spürbar Luft verschaffen würde.

Und noch einen Missstand kritisiert Jarass im selben Zusammenhang: "Das jetzige Steuersystem führt systematisch dazu, dass der Steuerzahler den Export seines eigenen Arbeitsplatzes subventioniert. Die großen Konzerne und Kapitalgesellschaften können legal und dauerhaft einen großen Teil ihrer Auslandsinvestitionen - also vor allem die Schuldzinsen für diese Investitionen - in Deutschland steuerlich geltend machen. Die Erträge aus diesen Auslandsinvestitionen, die nach Deutschland fließen, sind aber fast steuerfrei. Wenn ein Unternehmen 10 Millionen Euro Schuldzinsen bezahlt, spart es dadurch 40 Prozent, also vier Millionen Euro. Wenn es im Gegenzug aus diesen Investitionen 10 Millionen Euro Dividenen zurück bekommt, muss es darauf nur 200.000 Euro Steuern bezahlen."

All das gilt selbstverständlich ohne Abstriche auch für Siemens. Nach Jarass' Untersuchungen lag der Konzern in den Jahren 1997 bis 2002 mit einer effektiven Steuerquote von 14 Prozent zwar vor anderen deutschen Riesen wie etwa DaimlerChrysler (9%) und BASF (12%) - einen Grund zur stets wiederholten Klage über den Standort aber bietet dieser Satz ebensowenig wie ein stichhaltiges Argument zu Verlagerungen nach Osteuropa.