Siemens Dialog
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06.05.2024, 18:05 Uhr

Von sozialer Verantwortung keine Spur

  • 11.09.2002
  • Konzern

Wieso greift Siemens in der Krise nicht auf die Gewinne der letzten Jahre zurück?

Das „Global Network of Headcount-Reduction“ am Siemens Standort Hofmannstraße läuft auf Hochtouren – zumindest die Planungen dazu stehen fest. 2 600 Arbeitsplätze sollen um jeden Preis in möglichst kurzer Zeit weg. Der Zeitplan bis Ende September 2002 ist brutal, von sozialverträglich redet keiner mehr.

Das Konzept heißt "Auffang- oder Beschäftigungsgesellschaft sonst betriebsbedingte Kündigung". Für die betroffenen Mitarbeiter, die zum Großteil noch nicht ausgewählt sind, geht es nun um ihre Existenzsicherung – und dies kann nur gemeinsam geschehen. Wenn jeder wegschaut oder das Problem ignoriert, hat Siemens gewonnen und die Hofmannstraße wird immer mehr verwaisen.

Die Pläne der Betriebsleitung werfen Fragen auf. Es geht laut Dr. Matthias Bellmann, Personalchef von ICN, darum, „schnell eine gesunde Kostenbasis für einen langfristig schwachen Markt finden“. Unter „schnell“ stellt sich die Betriebsleitung die kommenden vier Wochen vor und das ist wirklich ein enger Zeitplan. Auf einer „gesunden Kostenbasis“ solle man damit kommen. Das ist genauso zweifelhaft wie ein „langfristig schwacher Markt“.

Herr Bellmann sieht sich in seinem Abbauvorhaben durch „zahlreiche Analysten“ bestärkt, auch der Aktienkurs stieg. Doch ausgemachte Wirtschaftsmarktexperten kritisieren diese neue „Hire and Fire“-Mentalität, die aus der amerikanischen Wirtschaft bekannt ist, als blinden Aktionismus.

Dazu kommt, dass die Pläne zu Auffang- und Beschäftigungsgesellschaft bzw. Kündigung und Kündigungsschutzprozessen, Unsummen kosten; die Rede ist von einem dreistelligen Millionenbetrag. Gelder, die genauso gut in Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung, die Alternative des Betriebsrates, gesteckt werden könnten. Nicht zu vergessen ist der materiell schwer einschätzbare Wert des Mitarbeiterpotenzials. Von einer gesunden Kostenbasis kann also nicht die Rede sein.

Auch der „langfristig schwache Markt“ ist zu bezweifeln. Es ist ja nicht so, dass der Telekommunikationsmarkt ein sterbender Bereich wäre. Er verändert sich nur. Das berechtigt zwar Bellmann dazu, von einer (zumindest teilweisen) strukturellen Krise zu sprechen. Jedoch lässt sich nicht mit Sicherheit ein als Faktum gehandelter schwacher und noch schwächer werdender Markt auf viele Jahre hinaus feststellen. UMTS- wie auch Breitband-Geschäft stehen an und könnten Siemens bei entsprechender Unterstützung die so sehnlichst gewünschte „Pole Position“ auf dem Weltmarkt verschaffen.

Was Siemens wohl an einer längerfristigen Planung hindert, ist das „Shareholder Value“-Prinzip, also der vorrangige Nutzen der Aktionäre. Es geht nur noch um möglichst hohe Rendite, und das von Jahr zu Jahr. Von sozialer Verantwortung ist bei dem einstigen deutschen Vorzeigekonzern nichts mehr zu spüren. Dass die Bereiche ICN und ICM diesen Aktionären in den vergangenen Jahren die gewünschten Dividenden gebracht haben, daran denkt heute keiner mehr.

Wieso man nicht auf den Gewinn der vergangenen Jahre zurückgreifen kann? Dies ist eine berechtigte Frage, aber sie müsste den richtigen Personen gestellt werden, z.B. Herrn Heinz-Joachim Neubürger, dem Finanzvorstand der Siemens AG, der einen großen Teil des Siemens Altersfonds in Aktien verspekuliert hat oder der ICN-Leitung, die sich am amerikanischen Markt zahlreiche Fehlinvestitionen geleistet hat (Unisphere, Efficient Networks...).

Eine gewisse Marktsättigung und Überkapazitäten sind nicht von der Hand zu weisen. Die Alternative des Betriebsrats zu den damit einhergehenden Abbauplänen heißt Arbeitszeitverkürzung. Dass dies klappen kann, ist bei FSC und VW zu sehen. Bislang lehnt die ICN-Führung diese Pläne strikt ab. Es wird trotzdem versucht, mit der Betriebsleitung darüber zu verhandeln. Sollte dies letztlich scheitern, darf die Belegschaft auf keinen Fall den Weg der Auffang- und Beschäftigungsgesellschaft gehen. Jede Kündigung ist besser. Damit können die Mitarbeiter wenigstens auf das Kündigungsschutzgesetz zurückgreifen und den rechtlichen Schutz ihrer Ansprüche wahren.

(Max Bauer)

Der Autor studiert Journalistik und Politikwissenschaft in München