Siemens Dialog
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17.05.2024, 08:05 Uhr

Zur Bestattung an BenQ übergeben

  • 19.09.2007
  • Konzern

Fast ein Jahr nach dem Anfang vom Ende hat Markus Grolms, damals Betriebsrat und IG Metall-Vertrauensmann in Kamp-Lintfort, einen Rückblick darauf geschrieben, wie die Ereignisse im Oktober 2006 begannen.

Die exemplarische Bedeutung des Falls BenQ für das zunehmend auftretende Schema Ausgliederung - Verkauf - Pleite, aber auch die persönliche Perspektive eines in jeder Hinsicht Betroffenen machen die Schilderung zu einem Dokument, das unzweifelhaft aufzeigt: Gegen solche und ähnliche Fälle müssen sich Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaft mit allen Mitteln stellen:

 Es gibt Dinge, die sieht man kommen, lange bevor sie uns wirklich erreichen. Sind sie dann da, ist der Schock dennoch groß, als hätte man nichts geahnt. Die BenQ-Pleite war so eine Sache. Von Siemens systematisch in die Krise gefahren, zur Bestattung an BenQ übergeben, haben wir alle geahnt, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen wird.

 Als wir unsere erste Nacht im Solizelt vor dem Werkstor verbringen wollten, waren Andreas  und ich noch geschockt und fassungslos. Dabei hatten wir uns in den letzten Monaten beinahe täglich gesagt, dass es nicht mehr lange gut gehen werde. Weil das 12 Meter lange Solizelt erst am nächsten Vormittag kommen sollte, bauten wir zwei Gartenpavillons auf, um endlich einen Anfang zu machen und das Gefühl von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein abzuschütteln.

 In zwei Jahren ist hier alles dicht, hatte unsere Kollegin Elvira Thiel im Juni 2004 dem Spiegel gesagt. Der hatte an unserem Beispiel zeigen wollen, warum die Deutschen wieder länger arbeiten müssen, alle Deutschen. Hätte Elvira gesagt, dass sie schon spüre, wie es aufwärts geht, sie hätte bestimmt in so einem "Du bist Deutschland"-Spot mitmachen dürfen. Durfte sie aber nicht. Dabei hatte selbst der ewig nörgelnde Stoiber Kamp-Lintfort zum Musterbeispiel für ganz Deutschland erklärt - ein Glück, dass nur Elvira Recht behalten hat.

Das Management hat alles im Griff

 "Die fahren den Laden gegen die Wand", konnte man spätestens seit Ende 2004 immer wieder in der Halle hören. Das Management aber wollte uns weiter glauben machen, dass alles unter Kontrolle sei und der Durchbruch so nah wie nie zuvor: "Wir wollen stärker wachsen als der Markt." Solche Rhetorik hat irgendwann keinen von uns mehr interessiert, das konnte man einfach so stehen lassen. Umfallen wie der berühmte Sack Reis würde es ohnehin von allein. Uns allen blieb aber nichts anderes, als trotz böser Vorahnungen weiterzumachen.

 Es ist genau diese Art von Widersprüchen, an denen man kaputt geht. Täglich antreten, um Gas zu geben, damit alles gut wird, immer im Hinterkopf, dass die letzte Messe längst gelesen ist. Reinhauen und am Riemen reißen, vor allem dann, wenn mal wieder ein neuer Vorstand mit Powerpoint-kompatiblen Wortschnipseln goldene Zeiten heraufbeschwören wollte.

 "Wollen die uns eigentlich verarschen?", habe ich mich bei solchen Gelegenheiten immer wieder gefragt. Gerne hätten wir mal einen der großen Macher mit in die Halle genommen, nur um mal zu zeigen, wie die Wirklichkeit jenseits der Bildschirmpräsentation aussieht. Angst war wohl die zuverlässigste Größe hier in Kamp-Lintfort in den letzten Jahren, von keiner Kennziffer erfasst, in keiner Präsentation erwähnt.

 "Was soll ich mitbringen?", war das einzige, was Andreas entschlossen antwortete, als ich ihn gefragt hatte, ob er diese erste Nacht im Zelt mit mir verbringen will. Diese Art von Entschlossenheit war es, die ich so oft vermisst hatte, wenn ich mich während einer Betriebsversammlung mal wieder fragte, warum wir eigentlich nicht einfach das eigens für diesen Zweck errichtete Zelt abreißen: Kamp-Lintfort und die Zelte als Vorboten schlechter Nachrichten.

Vom Werk zur Industrieruine

 Außer den Wachleuten war niemand am Werkstor an jenem Abend. Auch nicht die Medien, die uns in den kommenden Wochen täglich begleiten würden. In diesem Moment fand ich das auch ganz gut so. Ich stellte mir vor, wie sich Maria Gresz in einer Anmoderation über die beiden Protestler in den Gartenpavillons lustig machen würde, "als planten sie ein Grillfest gegen die Globalisierung".

 So ähnlich hätte das lauten können. Doch blieb uns derartiger Zynismus der Medien in den nächsten Wochen erspart. Vermutlich lag dies einfach daran, dass der Fall BenQ neue Maßstäbe gesetzt hatte, Maßstäbe für eine Verkommenheit, an die sich die Deutschland AG erst noch gewöhnen muss und vielleicht auch gewöhnen wird. Wir freilich haben uns keine Illusionen darüber gemacht, was wir erreichen können. BenQ sollte eine Art Arbeiterklappe sein: "Rein mit ihnen und dann ab dafür." Soweit der Plan. Diesen zumindest wollten wir ein wenig durchkreuzen, das war für uns Grund genug, in einem Zelt vor dem Werkstor zu wohnen.

 Auch die letzte Betriebsversammlung unter der Flagge von Siemens hatte in einem Zelt stattgefunden. 345 Kolleginnen und Kollegen hatten kurz zuvor erfahren, dass sie nicht Mitarbeiter von BenQ werden würden. Unser Werksleiter und selbsternannter "Eisbrecher", August Krauss, beteuerte, dass man eben hinnehmen müsse, was man nicht ändern könne. Das kann man von der Kommandobrücke des Eisbrechers so sehen. Taiwanesische Wochen in der Kantine würde es geben, Taiwanesische Wochen, unfassbar. Trotzdem gab es Kollegen, die noch geklatscht haben.

 Von unserem Zelt hatten wir freie Sicht auf eine zukünftige Industrieruine. "Vielleicht wird sie mal Bestandteil der Route Industriekultur", dachte ich. Wer auf der Autobahn das Ruhrgebiet durchquert, passiert alle paar Kilometer eines der Hinweisschilder, die eigentlich Grabsteine sind. Nimmt man eine Ausfahrt, dann kommt man in Wohngebiete, in denen echte Globalisierungsexperten wohnen, auf der Suche nach Arbeit, auf der Suche nach Hoffnung und Zukunft, und wenn sie noch nicht aufgegeben haben, dann suchen sie auch noch morgen. Und in der Zeitung lesen sie von "Fördern und Fordern", diese zynischen Phrasen von Politikern, denen nichts mehr einfällt. Irgendwann gibt man das Lesen einfach auf, genauso wie das Lesen der Kontoauszüge.

 Wir erzählten uns unsere Geschichte, wie wir es wohl bis zur Rente schaffen würden, von unseren Plänen und den Krediten, die wir mit Blick auf die Zukunftstechnologie aufgenommen hatten. Das freilich war vor unserer Ausbildung zu Globalisierungsexperten, die wir im Januar mit unserer Kündigung abschließen würden. "Das Ding wird fliegen", hatte unser "liebenswerter" Ex-Personalchef gesagt, der nicht mit uns zu BenQ gegangen war, weil er eine reizvollere Aufgabe im Hause Siemens gefunden hatte. Wer sagt da schon nein. "Das Ding wird fliegen", wir mussten lachen. Noch so eine Phrase von einem, der uns das Ei an die Backe pellen wollte, das alles gut werde, während er selber im Laufschritt das Weite suchte.

 "Na Jungs, alles klar?", fragte der Mann vom Wachdienst jede Stunde auf seinem Rundgang. Den macht er seit Jahren fast jede Nacht, um seine sichere Rente aufzubessern. Irgendwann haben wir dann einfach gepennt. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich etwas geträumt habe. Nichts verlernt man schneller im Ruhrgebiet als das Träumen, entlang der Route der Industriekultur.

(Markus Grolms)