Siemens Dialog
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17.05.2024, 00:05 Uhr

Arbeitnehmerrechte: China blickt nach Westen

  • 26.07.2005
  • Allgemein

Siemens-Entlassungen in Peking: indirekter Gewerkschaftseinfluss hinter unterschiedlicher Behandlung chinesischer und ausländischer Beschäftigter?

Eine Analyse der Diskussion in der chinesischen Öffentlichkeit fällt auf Grund der Sprachbarrieren zwar schwer, aber der Siemens Dialog hat eine Lösung gefunden: ein chinesischer Praktikant beim Siemens-Team der IG Metall erarbeitete nachfolgende Zusammenfassung vor allem der "First Financial Daily." Die unterschiedlichen Folgen des Stellenabbaus für heimische und ausländische Arbeitnehmer regen an, durch Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen die Bedingungen anzupassen.

Trotz des Verkaufs seiner Handy-Sparte an BenQ ist Siemens in China durchaus nicht aus der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten: Auf den Verkauf folgte eine Entlassungswelle bei Siemens Mobile, die laut unterschiedlichen Angaben wahrscheinlich mehr als 100 Beschäftigte und bis zu 80 Prozent aller Beschäftigten in Peking betrifft. Große Unruhe unter den chinesischen Beschäftigten verursacht der Unterschied zwischen einheimischen und ausländischen ArbeitnehmerInnen; die aktuellen Entlassungen treffen fast nur Chinesen.

Kündigung chinesischer Beschäftigter billiger

Entlassungen werden grundsätzlich als innere Angelegenheit eines Betriebs betrachtet, die nicht von äußeren Faktoren beeinflusst werden sollten. Dass im Fall Siemens Mobile keine Deutschen gekündigt wurde, hing laut Siemens nicht etwa mit Diskriminierung zusammen, sondern mit den unterschiedlichen Entschädigungsstandards. Für die deutschen Beschäftigten ist im Fall einer Entlassung die Restarbeitszeit laut Arbeitsvertrag maßgeblich; hat ein Deutscher beispielweise einen Arbeitsvertrag von vier Jahren unterschrieben und zum Zeitpunkt der Entlassung noch drei Jahre übrig hat, müsste Siemens diesen Gekündigten mit 36 durchschnittlichen Monatslöhnen entschädigen. Das ist allerdings viel teurer als die Entschädigung eines chinesischen Beschäftigten - folglich entlässt man zur Kostenreduzierung vor allem chinesische Beschäftigte, unabhängig von Position und Herkunft.

Dieser Sachverhalt führt zu einer anderen Frage: Die chinesische Öffentlichkeit und vor allem die Beschäftigten würden gerne wissen, wieso die Beschäftigten damals verschiedene Arbeitsverträge unterschrieben haben. Die Aussage, ausländische Beschäftigte verfügten eben einfach über ein stärkeres Bewusstsein zum Schutz der eigenen Interessen als ihre chinesischen KollegInnen, trifft dabei auf Unglauben. Nach Ansicht chinesischer Medien ist der Schutz von Arbeitnehmerinteressen auch im Westen bereits auf große Schwierigkeiten gestoßen, vor allem am Anfang der Marktwirtschaft; erst unter der Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Gewerkschaften entstand die heutige Sozialgesellschaft. Die Regierung hat z.B. Mindestlohnstandards, grundlegenden Arbeitsschutz und Sozialversicherung gesetzlich festgelegt, dadurch kann der Arbeitnehmer unter menschenwürdigen und sicheren Arbeitsbedingungen arbeiten. Die Stärke der Gewerkschaft bringt den Arbeitnehmern das kollektive Recht bei Verhandlungen mit Arbeitgebern. Kündigt ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer ohne stichhaltigen Grund, stellen sich unter Umständen alle Beschäftigen gegen ihn, so dass er bei Entlassungen mehr berücksichtigen muss.

Arbeitnehmerschutz: Theorie und Praxis

Im Vergleich zu Deutschland haben die Chinesen nach ihrer Auffassung zwar eigentlich auch klare gesetzliche Reglungen zum Schutz der Arbeitnehmerinteressen, wie sie jedoch in der Praxis durchgesetzt werden, ist noch sehr fraglich. Erst vor kurzem berichtete die China Youth Daily über eine Ziegelfabrik in Urumqi: „Die Freiheit der 50 Bauarbeiter wird beschränkt und Tag und Nacht überwacht. Sie haben schon seit rund 6 Monaten gar keine Löhne bekommen, wer sich ein bisschen darüber beklagt, wird sofort verprügelt. Sie haben schon seit 6 Monaten fast kein Fleisch zum Essen bekommen [...].“

Für das wirtschaftlich entwickelte Gebiet in China sollte man, so die vorherrschende Meinung, zum Schutz der Arbeitnehmerinteressen auf einer höheren Ebene künftig mehr Wert auf die Stärkung von Gewerkschaften legen. Es setzt sich die Überzeugung durch, dass eine gut entwickelte Wirtschaft auch stärkere Einflüsse des Kapitals bedeutet, dessen wesentliches Ziel, mehr Geld zu machen, aktive Kompromisse mit den Arbeitnehmern verhindert. Die Konsequenz: nur durch stärkere Gewerkschaftsorganisationen lassen sich die beiden Seiten ausbalancieren.

Stabilisierungsfaktor Gewerkschaft

Stärkere Gewerkschaften hätten demnach zwei wesentliche Vorteile: erstens bekäme die Mittelschicht (auch in China White Collars genannt) mehr Sicherheit und bildete dann eine stärkere soziale Schicht und Hauptkraft zur Stabilisierung der Gesellschaft; Zwischenfälle wie etwa der durch den Verkauf der Siemens-Handysparte verursachte Protest in Peking würden dann nicht mehr passieren. Zweitens könnte der immer größere Unterschied zwischen Arm und Reich und das damit verbundene Problempotenzial dadurch verringert werden. Laut einer Untersuchung zu den Einkommen von Bauarbeitern im Perlfluss-Delta-Gebiet haben sich die Löhne der lokalen Bauernarbeiter seit 20 Jahren nicht verändert.

Die chinesische Wirtschaft hat sich also im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik mit einem durchschnittlichem Wachstum von 9.5 Prozent pro Jahr sehr schnell entwickelt, das Einkommen von Bauarbeitern jedoch ist heute dasselbe wie vor 20 Jahren. Könnten die Gewerkschaft die Interessen der Bauarbeiter besser vertreten und schützen, würde sich diese unvernünftige Lage schnell und effektiv ändern.

Für den einzelnen Beschäftigten, so das Fazit der First Financial Daily, würde der Aufbau des „dualen Arbeitschutzes“ durch Regierung und Gewerkschaft eine sichere und menschenwürdige Arbeitbedingungen schaffen; für China als Nation könnte er zu einer stabilen und nachhaltigen Entwicklung des Landes beitragen.