Siemens Dialog
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02.05.2024, 07:05 Uhr

Bürokratischer Ballast oder Zukunftssicherung

  • 10.02.2010
  • Allgemein

Ein Gastbeitrag der Betriebsratsliste mitEINANDER im Stammhaus Erlangen G widmet sich der Frage, welchen Stellenwert Dienstleistungen im Konzern bei Siemens besitzen.

'mitEINANDER' im Betriebsrat Erlangen G<br>(Foto zum Vergößern anklicken)

Die Stärke eines integrierten (Technologie-)Konzerns ist, dass jede Organisationseinheit von der anderen lernen kann bzw. sollte. Auf diese Weise wird vermieden, dass ähnliche Probleme mehrfach und unterschiedlich (gut) gelöst werden.

Anwenderorientierte Dienstleistungen

Obwohl wir in der Siemens AG von einem systematisch organisierten Informations- und Erfahrungsaustausch zumindest auf Ebene der Mitarbeiter und Experten noch ein gutes Stück entfernt sind, gibt es zumindest in Fertigung und Engineering viele Beispiele relativ gut organisierter weltweiter Abstimmungs- und Austauschprozesse: In den Geschäftseinheiten wird das üblicherweise durch die Festlegung einer Leit-Fabrik bzw. eines zentralen Engineering-Standortes organisiert. Dort werden Innovationen erdacht und als erstes eingesetzt. Was sich an neuen Tools und Methoden bewährt, übertragen die Erfahrungs-träger aus den Leit-Fabriken und -büros dann in die Fertigungsstätten und Engineeringbüros in aller Welt.

Diese Vorgehensweise hat sich über viele Jahre hin bestens bewährt.

Dienstleistungen nach Vorschrift ...

Um so mehr stellt sich jedoch die Frage, warum Siemens in anderen Fällen - z.B. bei der Organisation sektorübergreifender Dienstleistungen (IT, Personal, ...) - von diesem erfolgreichen Prinzip abweicht. Während in Fertigung und Engineering die Anwender der Leit-Standorte über die anzuwendenden Methoden, Tools und Innovationen entscheiden, schreiben in den oben ge-nannten Beispielen Zentralabteilung (Corporate IT, Corporate HR, ...) per Richtlinien oder Vertrag jedem Nutzer in der Siemens AG vor, was er mit welchem Tools wie zu tun bzw. zu lassen hat.

Das erinnert mehr an alte Beamtenzeiten, als an ein modernes Dienstleistungsunternehmen. Dass unter solchen Bedingungen unwirtschaftlich gearbeitet wird, liegt auf der Hand.

... Verlust für Dienstleister und Nutzer

Die internen Dienstleistungsabteilungen werden gezwungen, die Einhaltung von Richtlinien und Vorschriften durchzusetzen - ohne Rücksicht auf die Wünsche oder Anforderungen ihrer Kunden*). Moderne, hochqualifizierte und kundengerechte Dienstleistungen können so nicht entstehen - zumindest nicht in den internen Dienstleistungsabteilungen. Die dort verbleibenden Dienste werden über kurz oder lang nur noch unter Kostengesichtspunkten betrachtet. Personalabbau, Einkommensreduzierungen, Ausgliederungen, Outsourcing und Verlagerung in Billiglohnländer sind die zwangsläufige Folge.

Wenn sich Kundenwünsche nicht mehr über den Markt, sondern nur auf bürokratischem Weg über eine Veränderung zentraler Vorschriften durchsetzen lassen und wenn infolgedessen individuelle, von den Vorschriften abweichende Wünsche einzelner Kunden gar nicht mehr erfüllt werden können, werden die Geschäftseinheiten geradezu gezwungen, die dadurch entstehenden Dienstleistungslücken selbst zu füllen. Für alle durch die Richtlinien nur unvollständig, nicht zufriedenstellend oder gar nicht zu erfüllenden Anforderungen ihres Geschäftes erfindet dann jede Geschäftseinheit ihre eigene Lösung. Niemand wird solche, aus eigenen Mitteln finanzierte Lösungen gern an andere Einheiten weitergeben - selbst wenn die dabei zu lösenden Probleme ähnlich sind. Wirtschaftlich sinnvolles Handeln sieht anders aus.

Dienstleistung als Beratungsangebot

Natürlich gibt es auch für Fertigung und Engineering Zentralstellen (CSMC) in der Siemens AG. Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese „Corporate-Abteilungen“ (CSCM, MCP, C top+, CFA) keine Richtlinien oder Vorschriften erlassen, sondern den Geschäftseinhei-ten Beratungsleistungen anbieten oder ihnen die Ergebnisse in- und externer Leistungsvergleiche liefern.  Diese „Corporate-Abteilungen“ müssen in jedem Einzelfall nachweisen, dass sie durch ihre Unterstützung die Prozesse der Geschäftseinheiten effektiver und erfolgreicher gestalten können.

Historisch gewachsene Mischmodelle

Neben den hier genannten gibt es in der Siemens AG viele weitere sektorübergreifende Dienstleistungen vom Einkauf über Logistik, Fertigungsdienstleister, Finanzen, Rechtsabteilung, Re-cherche, Immobilien, Sicherheit etc., die in unterschiedlichen (Misch-)Formen organisiert sind. Das zeigt aber nur, dass die organisatorische Aufstellung der internen Dienstleistungen wohl eher historisch gewachsen, als nach einem durchgängigen organisatorischen Konzept entstanden sind.

Neu aufstellen statt ausgliedern

Für den Übergang der hochentwickelten Industrieländer von der Industrie- zur Dienstleistungs-gesellschaft ist die Siemens AG damit nicht besonders gut gerüstet. Aber selbst wenn man sich aus diesen Ländern langsam verabschieden wollte, belasten die durch derzeitige Organisation verursachten Dienstleistungslücken (s.o.), die zahllosen Schnittstellen an den Grenzen zu den Geschäftseinheiten, sowie die damit entstehenden Doppelarbeiten und Parallellösungen den Erfolg im Unternehmen.

Überhaupt nicht einzusehen aber ist, wenn sektorübergreifende Dienstleistungsabteilungen
- von ihrem Kontakt zum Kunden schrittweise weggedrängt und
- nach zentralen Vorgaben auf die Erfüllung einfacher Dienstleistungen reduziert werden,
- die vorhandenen Kompetenzen der Mitarbeiter dieser Einheiten verkümmern   und
- die Einheiten selbst über Personalabbau, Einkommensreduzierungen, Ausgliederungen, Outsourcing und Verlagerung in Billiglohnländer geführt werden.

Es ist Aufgabe der Betriebsräte, der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, des Siemens-Teams der IG Metall und des Vorstandes der Siemens AG, die Weichen in diesem Bereich neu zu stellen. Man braucht dazu „nur“ die erfolgreichen Organisationsmodelle im Dienstleistungsbereich (Fertigung, Engineering, CMC, top+, ...) auf andere zu übertragen und - was vielleicht schwieriger ist - sich von ein paar alten Zöpfen zu trennen.

mitEINANDER ErlG im Betriebsrat Erlangen G


*) Niemand darf sich unter diesen Voraussetzungen wundern, dass diese Art Dienstleister bei ihren internen Kunden nicht besonders beliebt sind.