In einem offenen Brief an alle Betriebsräte der Siemens AG blickt der Gesamtbetriebsrat anlässlich des nahen Endes seiner Amtszeit und der kommenden Betriebsratswahlen auf die vergangenen vier Jahre zurück. Gleichzeitig stellt er die aktuelle Lage und die daraus entstehenden Herausforderungen dar, die in der nächsten Zeit auf die Arbeitnehmer bei Siemens und ihre Vertretungen zukommen.
Ausgliederungen, ...
Die Amtsperiode seit dem Jahr 2006 brachte Umwälzungen, die wohl einmalig in der Geschichte des Siemens-Konzerns waren: Es begann mit der Ausgliederung von Siemens’ Wurzel, der Kommunikationstechnik, 2007 gefolgt vom Verkauf von VDO. Kurz darauf verdrängte die Aufdeckung der Korruptionsaffäre alles andere, und erschütterte zusammen mit dem Auffliegen der AUB-Verfilzungen das gesamte Unternehmen in seinen Grundfesten. Die Folgen, obwohl weitgehend bewältigt, werden bis in die diesjährige Hauptversammlung hineinreichen, wo nochmals die Verantwortung früherer Vorstandsmitglieder zur Sprache kommt.
Der Gesamtbetriebsrat würdigt im Zusammenhang mit diesen Turbulenzen nachdrücklich den Einsatz der IG Metall, ihrer Vertreter im Aufsichtsrat und der Unternehmensbetreuung, und natürlich der Betriebsräte: „Die Zeit 2006 bis 2010 war von Umbrüchen bei Siemens geprägt, die eine der größten Herausforderungen für Unternehmen und Beschäftigte darstellten, die es in der Siemens Geschichte je gab. […] Die IG Metall und die Betriebsräte waren der einzige stabile und verbindende Faktor für die Beschäftigten.“
... Restrukturierung, ...
2008 setzte die Firmenleitung mit dem SG&A-Programm die größte Reorganisation der Siemens AG seit 20 Jahren und eines der größten Sparprogramme in der Unternehmensgeschichte um. Dass trotz der heute als Maßstab geltenden Vereinbarung über die finanziellen Bedingungen und Unterstützung der Betroffenen tausende Arbeitsplätze verloren gingen, zeigt die Schwäche des Systems, so der Gesamtbetriebsrat: „Betriebsräte haben keine wirtschaftliche Mitbestimmung.“ Dennoch erreichte er gemeinsam mit der IG Metall in diesem Prozess die Einführung von drei für die die Beschäftigung entscheidenden Rahmenbedingungen: „Die Stärkung von Siemens als integriertem Technologiekonzern, die Absage an weitere große und grundsätzliche Portfolioentscheidungen sowie den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2010.“
... und Weltwirtschaftskrise
Das vergangene Jahr 2009 schließlich war vor allem durch die Wirtschaftskrise und Beschäftigungseinbrüche in ihrem Kielwasser geprägt - erneut hohe Anforderungen an Betriebsräte und Gesamtbetriebsrat, zumal an dessen Spitze zu Jahresbeginn ein Führungswechsel stattfand. Die Anstrengungen, Bewährtes fortzusetzen und auszubauen, andererseits aber neue Impulse für die Durchsetzungsfähigkeit im Sinne der Beschäftigten zu geben, haben sich gelohnt: „Wir richteten unsere Arbeit klar auf die Sicherung der Beschäftigung und des Einkommens in der Krise aus. Oberstes Ziel war und ist der Erhalt der Arbeitsplätze und Standorte. Alles immer im effizienten und erfolgreichen Zusammenspiel mit der IG Metall.“ Beispiele für den Erfolg dieser Arbeit sind unter anderem die frühzeitig abgeschlossene Gesamtbetriebsvereinbarung „Beschäftigungssichernde Personalmaßnahmen“, mit der die Aufzahlung auf das Kurzarbeitergeld ebenso festlegt wurde wie ein organisations- und konzernübergreifender Personalausgleich.
Innovativ und offensiv aus der Krise
Im Frühjahr 2009 legte das Gremium unter dem Titel „Innovativ und offensiv aus der Krise – für einen New Deal bei Siemens“ eine Positionsbestimmung mit Forderungen zur Krisenbewältigung vor. Sie stellte unter anderem die Weichen für die in der Metallindustrie richtungsweisende Leiharbeitsvereinbarung, eine Verbesserung der Altersteilzeitregelung und die Eindämmung etlicher Einzelmaßnahmen ohne tragfähige Lösung für die betroffenen Beschäftigten.
Arbeitsplätze sichern gegen die Salamitaktik
Als Erfolgsfaktoren der Bewältigung vergangener und künftiger Herausforderungen bewertet der Gesamtbetriebsrat vorausschauendes Handeln, zu agieren anstatt zu reagieren, eine offene Kommunikation und die enge Kooperation mit der IG Metall. Hinzu kommt die enge Vernetzung mit den Betriebsräten und natürlich die Unterstützung der Belegschaften vor Ort. Mit dieser Kombination soll auch 2010 alles unternommen werden, um Arbeitsplätze, Standorte und Einkommen zu sichern: „Das ist Kern unserer Politik im letzten Jahr gewesen und das wird es in 2010 auch sein!“
Die aktuellen Perspektiven machen deutlich, dass diese Strategie und entsprechendes Engagement auch im neuen Jahr unabdingbar sein werden - eine Prognose, die auf wenig Zweifel stoßen dürfte: „Der Siemens Vorstand bestreitet zwar neue große Abbauwellen und große Portfoliomaßnahmen, aber er sagt auch, dass noch „kleine“ Maßnahmen zu erwarten sind. Diese können letztendlich auf dasselbe hinauslaufen. Die Krise wird zu Portfolioentscheidungen führen, die wir in Salamitaktik vom Vorstand vorgelegt bekommen.“
Strategie für Beschäftigung in Deutschland
Der Gesamtbetriebsrat verlangt vom Vorstand seinerseits eine gezielte Strategie für die Beschäftigung in Deutschland. Er stellt den geplanten Ausbau der globalen Wertschöpfung in Frage und fordert seinerseits den gezielten Ausbau der Wertschöpfung im Inland. Parallel zu dieser Grundsatzfrage und der Wirtschaftskrise zeichnen sich zahlreiche andere Handlungsfelder ab: Vom Erhalt hochwertiger Ausbildung bei deren Übernahme durch Siemens Professional Education, die geplante SIS-Ausgliederung, die Folgen mit dem Siemens Production System angestrebter Produktivitätssteigerungen, der so genannte Paradigmenwechsel in der Büroorganisation, und gewiss nicht zuletzt die Auswirkungen des Industry-Vertriebskonzeptes und des Projekts IS 2010.
Wichtig: Starke IG Metall bei Siemens
Die Betriebsratswahlen fallen also in eine für die Beschäftigten und ihre Interessenvertretung schwierige Zeit. Siemens’ Vorstand prognostiziert eines der konjunkturbedingt schwierigsten Krisenjahre des Unternehmens. Die 2009 enorm hilfreiche Kurzarbeit wird nicht mehrausreichen, so dass 2010 zusätzliche Maßnahmen und Lösungen zur Beschäftigungssicherung eingeführt werden müssen; ein Aspekt hierbei sind zwangsläufig neue Arbeitszeitmodelle. Klar ist nicht nur für den Gesamtbetriebsrat, worauf es vor diesem Hintergrund für die Betriebsratswahlen und über sie hinaus ankommt: „Wichtig in der Krise ist eine starke Gewerkschaft, eine starke IG Metall bei Siemens.“