Siemens Dialog
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16.05.2024, 17:05 Uhr

Betriebsversammlung im Stammhaus Erlangen

  • 05.08.2009
  • Operativ

Im Erlanger Stammhaus stieß am 30. Juli trotz der unmittelbar bevorstehenden Ferien die Betriebsversammlung zeitgleich zur Veröffentlichung der Quartalszahlen auf großes Interesse. Die Halle war gefüllt wie selten zuvor - ein Zeichen, dass die Beschäftigten wissen wollen, wie die Situation bei Siemens vor dem Hintergrund der Krise derzeit einzuschätzen ist und wie es weitergeht.

Als Gast konnte die Betriebsratsvorsitzende Sigrid Heitkamp (Foto) den kaufmännischen Leiter des Sektors Industry, Ralf Thomas, begrüßen. Fast zeitgleich mit den Erläuterungen Peter Löschers, der die Zahlen des dritten Quartals in München verkündete, erfuhren die Erlanger damit, wo sich Siemens derzeit sieht. Thomas brachte außer den Quartalszahlen und dem Hinweis auf die Bedeutung von Kostenbewusstsein, Wachstumschancen und der allgegenwärtigen Compliance vor allem eine klare Aussage mit: "Wir bauen nicht ab. Wir kürzen auch nicht bei Forschung und Entwicklung."

EDM und MEC

Zuerst einmal jedoch mangelte es Heitkamp nicht an Themen, die das Stammhaus unmittelbar in seinem Arbeitsalltag betreffen - wie etwa die Fertigungen EDM und MEC, die es am Standort mit rund 500 Beschäftigten gibt. In ihren Werkstätten wird seit einiger Zeit das Siemens Production System (SPS) eingeführt und angewendet. Siemens stellt es als Ansatz dar, die Fertigung zu optimieren: „Es führt nicht nur zu 90 % kürzeren Durchlaufzeiten, sondern auch zu höherer Qualität und Produktivität.“ Mit der Einführung erhofft man sich einen deutlichen Kostenrückgang; kein unkritischer Prozess, so Heitkamp: "Auf der Grundlage von Zeit- und Bewegungsstudien wird jeder Arbeitsvorgang in kleinste Einheiten zerlegt. Diese stellen dann nur geringe geistige Anforderungen, sind schnell wiederholbar und somit schnell zu lernen. Eine derartige Arbeitszerlegung führt oft zu einseitiger Belastung, zu dem Gefühl von Monotonie und Fremdbestimmtheit sowie physischer und psychischer Unterforderung."

Die Begeisterung der Erlanger Beschäftigten hält sich daher bisher in Grenzen. Der Betriebsrat hat sich in die Einführung und Ausgestaltung des SPS eingeschaltet, um Nachteile für die Beschäftigten möglichst zu vermeiden. Betroffen sind dabei auf lange Sicht keineswegs nur die Fertigungen, denn, so heißt es bei Siemens: "Durch ihre Regelhaftigkeit und einen umfangreichen Methoden-Baukasten lassen sie sich auch leicht auf Verwaltungsbereiche übertragen."

Umfrage bei Mobility

Schon 2008 hatte der Betriebsrat eine Umfrage bei Mobility gemacht, um Vorschläge und Kritik aufzunehmen. Die Ergebnisse wurden der Leitung übergeben, gravierende Verbesserungen konnte der Betriebsrat allerdings bisher nicht feststellen. In diesem Frühjahr fasste man deshalb nach und stellte die wichtigsten Fragen erneut. Das Management hat Bereitschaft signalisiert, die Vorschläge aufzunehmen, sich den Problemen zu stellen und dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen auch durchdringen. Gerade angesichts zur Zeit guter Auftragseingänge sieht der Betriebsrat eine latente Gefahr, sich nicht ausreichend mit den Strukturen und Prozessen zu beschäftigen.

Zusammenlegung SIS und ITO/ARE

Auf der letzten Betriebsversammlung Anfang März wurde Peter Löscher gefragt, welche Zukunft die IT-Dienstleistungen bei Siemens haben. Die Antwort blieb vage; in der Zwischenzeit hat der Betriebsrat zusammen mit den Beschäftigten versucht, die SIS-Leitung zu überzeugen, dass es ein Irrweg ist, IT-Dienstleistungen nur unter Kostengesichtspunkten zu betrachten, statt Prozesse zu verbessern. Der Ansatz blieb bekanntlich vergebens, die Führung setzte ihr Konzept um und legte die Abteilungen zusammen. Inhaltliche Fragen sollen nun in der neuen Organisation bearbeitet werden - der Betriebsrat will die SIS-Leitung hier beim Wort nehmen und die Wünsche und Forderungen der Beschäftigten einbringen.

Grundsätzliche Kritik gibt es in diesem Zusammenhang an der Vorgehensweise, alles, was nicht zum ständig neu definierten Kerngeschäft gehört, nur noch anhand der Kosten zu beurteilen. Heitkamp fasste den Missstand zusammen: "Alles hat sich - oft wider besseren Wissens - der kurzfristigen, betriebswirtschaftlichen Nutzenrechnung zu unterwerfen. […] Ich meine, hier ist es an der Zeit, die Dinge ganzheitlich zu betrachten und nicht die Zukunft auf Kosten des Quartalsergebnisses zu verspielen!"

Um solchen Trends gegenzusteuern, geben die einschlägigen Gesetze den Betriebsräten keine Einflussmöglichkeiten, so Heitkamp, weshalb die Firmenseite nur von zwei Dingen zu beeindrucken ist: "Von einer hohen Wahlbeteiligung bei Betriebsratswahlen und von der Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb. [...] Also: Sie wissen, was Sie zu tun haben."

Wirtschaftskrise und Beschäftigungssituation

Wie überall ist natürlich auch im Stammhaus die wirtschaftliche Situation vor dem Hintergrund der Krise ein wesentliches Thema. Die Quartalszahlen stellen dabei nur einen Indikator dar, denn die Betriebsratsvorsitzende spricht für viele, wenn sie daraus keine eindeutige Aussage ablesen kann: "Ich habe das diffuse Gefühl, dass es in so einem großen Unternehmen wie unserem gewisse kaufmännische Spielräume gibt, Gewinn und Verlust da erscheinen zu lassen, wo es der Strategie nützt." Der CEO hatte Ende Juni in einem Mitarbeiterbrief "schwierige Passagen" angekündigt, die nun auch im Stammhaus näherkommen. In vielen Abteilungen gehen die Aufträge und damit auch die Auslastung der Beschäftigten zurück. Etliche haben daraufhin die Arbeitszeiten reduziert, vereinzelt werden 40-Stunden-Verträge nicht mehr ausgegeben oder gekündigt.

Der Betriebsrat hat auf eine Rahmenregelung für Abteilungen gedrängt, die zur Zeit noch viel zu tun haben, aber wenig neue Aufträge bekommen und deshalb ein Auslastungsloch befürchten. Sie regelt die notwendigen Schritte, um Mehrarbeit für Zeiten geringerer Auslastung zu sammeln. Mobility ist am Standort davon nicht betroffen; bei Energy sammelt die Hochspannung vorsichtshalber die jetzige Mehrarbeit für schlechte Zeiten auf; für die zentrale Forschung und Entwicklung gibt es bislang keine konkreten Schritte. In der Division IS hält die Auftragslage in einigen Bereichen noch mindestens bis zum Jahresende vor, in anderen ist Kurzarbeit in unterschiedlichem Ausmaß unabwendbar. Entsprechende Verhandlungen mit der Firmenseite werden derzeit aufgenommen.

Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung

Die Haltung des Betriebsrates in diesem Zusammenhang betonte Heitkamp klipp und klar: "Oberstes Ziel ist selbstverständlich, den Beschäftigten trotz der Krise die Arbeitsplätze bei Siemens zu erhalten." Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es verschiedene Instrumente, um deren Einsatz sich der Betriebsrat bemüht, etwa den Personalaustausch an einem Großstandort wie dem Stammhaus: "Es ist nicht zu erwarten, dass alle 11.000 Beschäftigten in Kurzarbeit gehen. Deshalb wird unsere Aufgabe als Betriebsrat sein, dafür zu sorgen, dass es innerhalb unseres Standortes nicht zu einer Schieflage kommt, bei der an der einen Ecke Kurzarbeit gemacht wird und an einer anderen die Kolleginnen und Kollegen Mehrarbeit ohne Ende haben oder zuhauf Werkstudenten und externe Mitarbeiter eingesetzt sind, damit man die Arbeit überhaupt schafft."

Verlagerung Nebenbuchhaltungen

Ein nach wie vor konfliktträchtiges Thema ist die Verlagerung von Buchhaltungsaufgaben in die tschechische Republik. Schon im Dezember 2009 waren in Erlangen G MitarbeiterInnen von PTD und Mobility betroffen, Anfang 2009 wanderten deutschlandweit 93 Arbeitsplätze nach Prag ab. Der Prozess geht weiter; die Arbeitnehmervertretungen fragen sich allerdings, ob dies bei fünf Jahren erwarteter Amortisationszeit der Restrukturierungskosten tatsächlich eine wirtschaftliche Entscheidung, oder aber eine politische ist.

Aktuell sind bundesweit weitere 119 Industry-Beschäftigte von solchen Verlagerungen betroffen, davon 13 in Erlangen G. Heitkamp verwies auf die fehlenden Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmervertreter, weshalb eine Projektgruppe des Gesamtbetriebsrates mittlerweile einen Interessenausgleich für die Betroffenen verhandelt hat. Dessen Bedingungen entsprechen denen aus dem SG&A-Programm, umfassen also Aufhebungsverträge mit oder ohne Eintritt in eine Beschäftigungsgesellschaft, Altersteilzeit und vorzeitige Beendigung.

Da von den 119 betroffenen MitarbeiterInnen 102 Frauen sind, legt der Interessenausgleich örtliche Gespräche über den dadurch entstehenden Struktureffekt - die Abwanderung weiblicher Beschäftigter - fest. Außerdem soll es Qualifizierungsangebote geben, die für diesen Personenkreis besonders geeignet sind.