Siemens Dialog
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03.05.2024, 08:05 Uhr

Die großen Wirtschaftslügen

  • 18.03.2009
  • Allgemein

Je mehr katastrophale Folgen der Wirtschaftskrise erkennbar werden, desto mehr rücken Fragen in den Vordergrund, wie es eigentlich soweit kommen konnte. Ist die Jagd nach maximaler Rendite wirklich unumgänglich? Sind Finanzmärkte wichtiger als die für reale Waren? Warum kassieren Manager Millionen und zahlen kaum Steuern? Was können Aufsichtsräte wirklich kontrollieren?

Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen wird zweifellos lange dauern, zahlreiche Diskussionen entfachen und - vielleicht - am Ende den einen oder anderen Systemfehler enthüllen und hoffentlich abstellen. Denkanstöße für diesen Prozess gibt es jetzt schon reichlich - und anderem ein im Januar erschienenes Buch mit dem Titel "Die großen Wirtschaftslügen - Raffgier mit System".

Autor Wolfgang Müller ist Sozialwissenschaftler, arbeitete viele Jahre in der IT-Branche, war Betriebsrat und in den vergangenen Jahren als Gewerkschaftssekretär der IG Metall Bayern Mitglied der Aufsichtsräte von Siemens, Infineon und Audi. Seit einigen Monaten beschäftigt er sich als IG Metall-Betreuer der Schaeffler Gruppe unter anderem hautnah mit deren fehlgeschlagenem Übernahmepoker um die Continental AG.

Bei Beginn der Arbeit an seinem Buch begrenzte sich die Krise noch auf erste Anzeichen an den Finanzhorizonten jenseits des Atlantiks. Er wollte nach eigenem Bekunden eigentlich 'nur' schreiben "über die Lügen und Selbsttäuschungen der Manager rund um Auslandsverlagerungen und Offshoring schreiben." Je weiter er kam, desto größer wurde dann aber der inhaltliche Rahmen, wie er erklärt, denn: "das ist im Grunde nur ein kleiner Ausschnitt der großen Welt der Wirtschaftslügen".

Herausgekommen ist also eine Bloßstellung dessen, was in der Öffentlichkeit verbreitet als gegeben hingenommen wird, nicht zuletzt durch die Darstellung in den Medien: Das Lippenbekenntnis des angeblichen gesellschaftlichen Auftrags und der Verantwortung von Unternehmen, die 'kreative' Gestaltung scheinbar verlässlicher Kennzahlen, die vorgebliche Neutralität der Wirtschaftsprüfer, das Ausmanövrieren von Kontrollinstanzen, und über all dem die dogmenartig verbreitete Behauptung, maximale Deregulierung der Wirtschaft wäre zum Besten aller.

Müller ruft dazu auf, diese wirtschaftlichen Weisheiten und angeblich alternativlosen Konzepte zu kritisieren: "Denn Manager, Berater, Wirtschaftsprüfer und Analysten kochen auch nur mit Wasser, haben aber handfeste Eigeninteressen. Ihr Machtmonopol besteht zum guten Teil darin, dass ihre Zahlen und Planungen oft ungeprüft und unwidersprochen bleiben." Diese übergeordnete These stützt er mit einer Fülle von Beispielen, mit denen er in seiner Arbeit konfrontiert wurde und wird.

Das Ergebnis ist ein Einblick in die Mechanismen, die einen guten Anteil an der jetzt herrschenden Krise haben. Durch das umfassende Hintergrundwissen des Autors geht die Information deutlich über das hinaus, was man auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen findet. Phänomene wie der Druck zu immer höheren Gewinnen jenseits real erzielbarer Wertsteigerung, oder die häufig faktische Tatenlosigkeit von Instanzen wie den oft überforderten Aufsichtsräten, wenn es eigentlich gälte allzu riskante Schachzüge zu unterbinden, werden fesselnd und gut lesbar geschildert.

Müller geht es dabei nicht etwa um eine Generalabrechnung mit, wie er es nennt, "dieser Veranstaltung, die Kapitalismus genannt wird"; er will zu mehr Demokratie, zu Engagement auf allen Ebenen auch der Wirtschaft anstacheln: "Ohne Demokratie keine Veränderung des menschenfeindlichen Wirtschaftssystems." Dass fast zeitgleich mit dem Erscheinen seines Buches eben dieses System seine Schwächen und seinen dringenden Verbesserungsbedarf fast täglich mit neuen Katastrophenmeldungen unter Beweis stellt, unterstreicht diesen Anspruch eindrücklich.

Die großen Wirtschaftslügen: Raffgier mit System ist im Januar 2009 als Taschenbuch bei Droemer/Knaur erschienen und für 8,95 Euro im Buchhandel erhältlich.