Siemens Dialog
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29.04.2024, 13:04 Uhr

Befreiung von der Ranking- und Rating-Manie

  • 11.03.2009
  • Allgemein

Angesichts rapider zunehmender Krisenfolgen tritt die anfangs noch öffentlich gestellte Frage nach den Ursachen des globalen Einbruchs hinter die zurück, wie man die jeweils besonders akuten Brände - momentan etwa Opel, Hypo Real Estate und Schaeffler - am besten löscht. Das ist verständlich, aber mittel- bis langfristig gefährlich.

Prof. Dr. Ullrich Heilemann

Eine "Abkehr von der Gier-Wirtschaft" forderte der erste IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber kürzlich auf einer Berliner Siemens-Betriebsversammlung. Gewerkschaften und ihre Vertreter haben lange vor Risiken und Nebenwirkungen der sprunghaft wachsenden Maßlosigkeit in der Wirtschaft gewarnt. Die Kritik an langfristig oft zweifelhaften Auswirkungen dieser Entwicklung auf das konkrete Handeln der Akteure in Industrie, Börse und Politik wurde als Bremserei abgetan.

Jetzt gilt es tatsächlich erst einmal, die katastrophalen Folgen wo immer möglich abzufangen. Überhebliche "Haben wir doch immer gesagt"-Statements sind fehl am Platz, zumal die große Mehrheit derjenigen, die die Krise ausbaden müssen, mit deren Verursachung gar nichts zu tun hat. Dennoch ist es wichtig, parallel schon jetzt nach diesen Ursachen zu fragen und darüber nachzudenken, wo das System verändert werden muss.

"Schöpferische Zerstörung" durch die Krise?

In den aktuellen <link http: www.boeckler.de _blank external-link-new-window> Mitteilungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes der Hans-Böckler-Stiftung findet man einen in diesem Zusammenhang äußerst lesenswerten Kommentar des Direktors des Instituts für Empirische
Wirtschaftsforschung der Universität Leipzig, Prof. Dr. Ullrich Heilemann. Als Experte für Konjunkturanalyse und -politik sowie makroökonometrische Modelle weiß er zweifellos, wovon er schreibt:

Die Phrase von der "schöpferischen Zerstörung" suggeriert nach seiner Einschätzung derzeit gern, wenigstens mache der aktuelle Ein- und Zusammenbruch Platz für Neues: "Wann und wo, bleibt klugerweise offen." Als "weniger zerstörungsverliebt" bewertet Heilemann die Wirtschaftswelt im Umgang mit ihren eigenen Pfeilern - und empfiehlt daher schon jetzt eine Reihe geeigneter Kandidaten.

Konzeptionelle und empirische Mängel

Als erstes "sollten wir uns rasch von der Ranking- und Rating-Manie der letzten Jahre befreien", diagnostiziert Heilemann, und liefert eine fundierte Begründung: "Trotz zahlreicher konzeptioneller und empirischer Mängel wurden Ranking- und Rating-Ergebnisse zum Kompass nicht nur des Kommentariats, sondern auch der Politik. Viele der Länder, die die Krise mit auslösten – von den Vereinigten Staaten, über das Vereinigte Königreich bis hin zu Spanien und
Irland -, wurden so jahrelang als „Vorbilder“ gepriesen, ohne dass es auch nur den kleinsten Hinweis auf ihre fragilen Strukturen gegeben hätte."

Wachstum auf Kosten der Binnenkonjunktur

Speziell für Deutschland sieht der Experte an zweiter Stelle der Liste von Auslaufmodellen die Abkoppelungsthese, nach der die deutsche Wirtschaft von weltwirtschaftlichen Risiken losgelöst funktionieren kann. Nach ihr wurde etwa noch nach Beginn des Bebens in den USA hartnäckig behauptet, die Erschütterungen würden Deutschland kaum oder gar nicht erreichen. Heilemann kritisiert: "War es wirklich so schwierig zu sehen, dass Deutschland, wo seit bald zehn Jahren nur die Ausfuhr für Wachstum gesorgt hatte, für internationale Turbulenzen besonders anfällig sein würde? Dass auch große „Kosteneffizienz“ bei einer allgemeinen Absatzkrise wenig hilft, erst recht nicht, wenn sie mit einer vor sich hin dümpelnden Binnenkonjunktur erkauft ist, sollte nicht neu sein."

"Krisenfrei" gibt's nicht

Zum "unangefochten ersten Kandidat für den Orkus" erklärt Heilemann jedoch die vergleichsweise junge These von der krisenfreien Wirtschaft als Gegenmodell zu dem des Konjunkturzyklus': "Bis weit nach dem Ausbruch der Finanzkrise herrschte – wie stets bei großen Krisen – auch diesmal die Ansicht vor, dass eine weltweite Krise bereits des jetzt erwarteten Ausmaßes unmöglich sei."

Was das Potenzial betrifft, nach der unmittelbaren Krisenbekämpfung die Lehren aus den jüngsten Fehlern in eine "konjunktur- und krisenpolitische Neubesinnung" münden zu lassen, gibt sich Heilemann pessimistisch: "Seien wir froh, wenn wir nicht allzu weit hinter frühere Krisen-Lehren zurückfallen." Ein Grund mehr, die Debatte um Systemfehler und Verbesserungsansätze nicht aus den Augen zu verlieren.