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09.05.2024, 02:05 Uhr

"Systematisch und absichtlich überfordert"

  • 17.06.2009
  • Allgemein

Mehr Freiheit und Flexibilität beim Erreichen vorgegebener Ziele sollen neue Management-Methoden durch Umgestaltung der Arbeitsorganisation vorgeblich erreichen. Die Kehrseite der Medaille sind steigende Belastungen - vor allem, wenn die Distanz zwischen Zielen und Ressourcen im Zuge der Umorganisation schleichend wächst.

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Stress und Leistungsdruck

Unrealistische Ziele und striktes Controlling sorgen vor allem für Stress und Leistungsdruck, so lässt sich das Ergebnis einer Studie des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung München (<link http: www.isf-muenchen.de _blank external-link-new-window>undefinedISF München). Wissenschaftler befragten über 100 Beschäftigte, Führungskräfte und Experten und stellten fest, dass wachsende seelische Lasten eine Folge neuer Management-Methoden sind.

Wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (<link http: www.boeckler.de _blank external-link-new-window>undefinedWSI) der Hans Böckler-Stiftung, das gemeinsam mit dem ISF am Forschungsprojekt "Partizipatives Gesundheitsmanagement" arbeitet, <link http: www.boeckler.de _blank external-link-new-window>undefinedberichtet, kann es zwar theoretisch zu mehr Zufriedenheit führen, wenn das Management den Beschäftigten bei der Erfüllung von Zielen freie Hand lässt (siehe Grafik).

"Häufig überfordert und belastet"

In der Praxis jedoch stand in den untersuchten Betrieben nicht genug Personal und Zeit zur Verfügung, um diese Ziele auch zu erreichen. Außerdem wird der vordergründig angestrebten Selbststeuerung durch zunehmende Standardisierung von Arbeitsschritten und starke Kontrolle der Abläufe der Boden wieder entzogen. Die Forscher des IFS fassen zusammen: "Die Belegschaften fühlten sich häufig überfordert und belastet." Den Hintergrund für diese unerwünschte Entwicklung bilden drei zentrale Merkmale der neuen Arbeitsgestaltung.

"Reines Knechtinstrument"

Da ist zum einen die Ergebnisorientierung. Die Arbeitswissenschaftler konstatieren einen Paradigmenwechsel in der betrieblichen Leistungssteuerung, nach dem die Planung nicht mehr von den gegebenen Kapazitäten ausgeht, sondern zuerst das zu erreichende Ergebnis festlegt. Rendite- und Umsatzziele orientieren sich also nicht primär am praktisch Machbaren, sondern am theoretisch Denkbaren: "Das gewünschte Ergebnis wird auf der Führungsebene beschlossen und nach unten weitergereicht. Ein ausgefeiltes Controlling macht sichtbar, wer die Ziele nicht erreicht." Einen Betroffenen zitiert die Studie, der ständige Blick auf die Zahlen sei "ein reines Knechtinstrument".

Eigentlich schon am Limit

Hinzu kommen strenge Steigerungsraten, mit denen die Beschäftigten "systematisch und absichtlich überfordert" werden, so die Forscher, "und das nicht nur in einzelnen Unternehmen." Als Legitimation erklärt man, die Arbeit solle schließlich "herausfordernd" sein. Ein Beschäftigter: "Ich höre jedes Jahr von den Führungskräften den Satz: Wir legen noch eine Schippe drauf. Und das Merkwürdige ist: Wir schaffen das jeweils." Mit der Konsequenz, "dass sich die Spirale weiterdreht und wir am Ende des Jahre wieder hören, dass wir noch eine Schippe drauflegen sollen, obwohl wir eigentlich schon am Limit arbeiten".

Permanente Reorganisationen

Ein weiteres Problem sind permanente Reorganisationen in den Unternehmen, bei denen unrentable Bereiche verkleinert, ausgelagert oder geschlossen, ganze Betriebsteile ein- oder ausgegliedert, Abteilungen getrennt oder zusammengelegt werden. Die Betriebe werden fortwährend überprüft und umgebaut, sofern eine Kennzahl nicht den Zielen entspricht - für die Beschäftigten bedeutet das permanente Unsicherheit und die ständige Sorge, eine Restrukturierung könne ihren Arbeitsplatz kosten. Zusätzlich verlangen Reorganisationen oft Zusatzarbeit und bieten obendrein einen Anlass, die Personaldecke auszudünnen. Am Ende bleibt dann häufig mehr Arbeit für die Restbelegschaft.

Selbststeuerung versus Standardisierung

Als dritten Punkt schließlich führen die Forscher widersprüchliche Anforderungen von Selbststeuerung auf der einen und Standardisierung auf der anderen Seite auf. Schematisch normierte Prozesse, Produkte und Instrumente schränken die vermeintliche Freiheit wieder ein, so dass am Ende kaum Entlastung herauskommen, so die Wissenschaftler. Eher sei das Gegenteil der Fall, weil das Controlling nur die standardisierten Arbeitsschritte aufnimmt und die Arbeitsorganisation selbst dadurch als Last empfunden werde.