Siemens Dialog
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03.05.2024, 20:05 Uhr

"Übererfüllung auf Kosten der Beschäftigten"

  • 19.11.2007
  • Allgemein

Bereits zum dritten Mal trafen sich in der vergangenen Woche Siemens-Betriebsräte und Gewerkschafter im hessischen Gersfeld, um über die Strategie des Siemens-Konzerns und die Rolle der Beschäftigten darin zu beraten. Ihr kritisches Fazit: "Wenn man in die falsche Richtung läuft, macht es keinen Sinn, das Tempo zu erhöhen."

Unter diesem Titel verabschiedeten die knapp 50 TeilnehmerInnen aus Bamberg, Berlin, Braunschweig, Bremen, Dortmund, Düsseldorf, Erlangen, Essen, Frankfurt Fürth, Hamburg, Hannover, Kiel, Leipzig, München, Paderborn, Regensburg, Rostock und Ruhstorf wie schon beim vergangenen Treffen abschließend ein "Gersfelder Positionspapier" (siehe Download).

Das Positionspapier bezieht sich erneut auf seinen Vorgänger, den Siemens-Gesamtbetriebsrat und -Konzernbetriebsrat bereits im April 2004 veröffentlichten. Die damaligen Annahmen haben sich, so die heutige Erkenntnis, bestätigt: "Auf Kosten der Arbeitsplätze und Beschäftigungsbedingungen insbesondere in Deutschland wurden die Renditeerwartungen der Aktionäre übererfüllt."

Die schon unter der Führung Heinrich von Pierers begonnene und durch Klaus Kleinfeld fortgesetzte Strategie, sich ausschließlich an "Profit and Growth" und den so genannten Megatrends zu orientieren, war nach Einschätzung der Teilnehmer ein an kurzfristigen Renditen orientiertes Portfolio-Management: "Mit dieser Strategie wurden komplette Bereiche abgestoßen und zahlreiche Arbeitsplätze bei Siemens und Zulieferern vernichtet (COM, BenQ, SBS, FEAG, Sinitec usw.)."

Aktuelle Restrukturierung: neue Qualität der Kapitalmarktorientierung

Die nun unter von Peter Löscher vorgestellte Restrukturierung des Konzerns bewertete man in Gersfeld als neue Qualität der bekannten Strategie, sich am Kapitalmarkt auszurichten. Die Kennzeichen:

Renditeziele werden hoch gesetzt, Wachstumsziele in teils unrealistische Höhen (BIP²) geschraubt, das Managementhandeln durch zusätzliche Vorgaben bezüglich Kapitalrendite und Cashgenerierung weiter auf rein monetäre Ziele eingeschränkt, die Investitions- und somit die Innovationskraft des Unternehmens  durch die Vernichtung von 10 Milliarden Euro im Aktienrückkaufprogramm nachhaltig geschwächt und eine konservative Kapitalstruktur durch eine sehr risikoreiche Finanzierungsstrategie ersetzt.

Den Siemenskonzern verändert die neue Richtung aus Sicht der Unterzeichner des Positionspapiers nicht nur in seiner völlig neuen Grundstruktur, bei der im Zuge der Umgliederungen auch gleich 10 bis 20 Prozent der Vertriebs- und Verwaltungsgemeinkosten eingespart werden sollen; das angekündigte "aktive Portfoliomanagement" kann nach ihrer Meinung auch zu weiteren Ausgliederungen und Verkäufen führen. Ausgenommen ist von diesem Damoklesschwert niemand: "Alle diese Maßnahmen betreffen Fertigungen, Stammhäuser, Zentralen, Niederlassungen und Beteiligungsgesellschaften in gleicher Härte: „Our cost structure will be fundamentally reformed. [...] We will remove unneeded structures and processes." (Peter Löscher bei der Londoner Analystenkonferenz im November 2007)

"Dramatische Folgen"...

Unter dem Strich stellte man in Gersfeld eine Gefährdung des langfristigen Bestands des Unternehmens mit potenziell dramatischen Folgen für die Mitarbeiter fest. Daraus leitet sich ihre abschließende Erklärung ab:

... und Alternativforderungen der Arbeitnehmerseite

"Wir erwarten, dass die Arbeitnehmervertretungen bei dieser Betriebsänderung mindestens entsprechend der gesetzlichen Verpflichtungen einbezogen werden, das heißt einen offenen Kommunikationsprozess, Beratungen und Einhaltung der Mitbestimmungsrechte. Damit ist die angekündigte Umsetzung ab Januar 2008 ohne die Verletzung von Recht und Gesetz (Compliance!) nicht einzuhalten.

Wir sind nicht bereit, die von der Siemensbelegschaft in 160 Jahren aufgebaute Innovations- und Technologiekultur dem Diktat der Kapitalmärkte widerstandslos zu unterwerfen.

Wir fordern eine auf wirkliche Nachhaltigkeit ausgerichtete Unternehmensstrategie.

Das bedeutet Ausweitung des Geschäfts und Sicherung der Arbeitsplätze in Deutschland. Das kann nur mit dem Sicherstellen und Erhalt der gesamten Wertschöpfungskette in Deutschland von Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Service gelingen. Die Weiterentwicklung von effizienten Support- und Stabsfunktionen ist wichtig, eine weitere Reduzierung dieser Funktionen schädigt das Geschäft.

Wir wollen eine konkrete Perspektive und sichere Arbeitsplätze für die Beschäftigten in Deutschland, in den Werken, den Niederlassungen, in Verwaltung und Entwicklung. Nur das sichert auch den langfristigen Bestand des Unternehmens."