Siemens Dialog
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05.05.2024, 02:05 Uhr

Restrukturierung: Belegschaften in großer Sorge

  • 03.06.2008
  • Allgemein

Auf zahlreichen Betriebsversammlungen wird dieser Tage von Betriebsräten und IG Metall über das derzeit laufende Restrukturierungsprogramm berichtet. Diese in der Regel angenehme gesetzliche Pflicht zu erfüllen, fällt allerdings heuer oft schwer.

Die Informationen nämlich, die über Wirtschaftsausschuss und Gesamtbetriebsrat die Grundlage für die Betriebsräte und deren Diskussion mit den Beschäftigten bilden, sind leider nicht ganz gesetzeskonform, beziehungsweise neudeutsch compliant. Dass dem so ist, liegt nicht an Gesamt-betriebsrat oder Wirtschaftsausschuss - es liegt allein beim Arbeitgeber.

Rechtzeitige und umfassende Information...

„Rechtzeitig und umfassend“ und zwar „im Stadium der Planung“ sollen Betriebsräte und Belegschaften im Falle von so genannten Betriebsänderungen unterrichtet werden. Und der derzeitige Umbau von Siemens ist die wahrscheinlich größte Betriebsänderung der letzten 50 Jahre. „Ohne Tabus“ (Peter Löscher) und mit atemberaubender Geschwindigkeit werden Business Units und Sektoren neu zusammengewürfelt, zentrale Konzernaufgaben und Querschnittsfunktionen auf den Prüfstand gestellt, mit „CEO Prinzip“ und verschärften Renditevorgaben der Managementstil revolutioniert. Personalabbau, so hat es Herr Löscher dem „Focus“ anvertraut, werde es jedenfalls auch geben.

...ist so nicht gegeben

Dies alles konnte auf den Versammlungen (Foto oben: in der NL Hamburg) berichtet und dargestellt werden, zumal es auch der einschlägigen Presse zu entnehmen war. Doch das deutsche Gesetz verweist im Falle eine Umorganisation nicht auf die veröffentlichte Meinung und allgemeine Grundsätze, sondern verpflichtet den Arbeitgeber, die Auswirkungen seines restrukturierenden Tuns und Wollens im Detail darzustellen; in diesem Fall bedeutet das etwa:
• Welche Aufgabenteilung besteht zwischen Sektoren und Vorstand,
• wieweit werden Zentralfunktionen wie Corporate Technologie oder IT-Infrastruktur einheitlich oder sektoral gesteuert,
• welche Arbeitsplätze werden verlagert, entfallen, erhalten neue Aufgaben und welche genau,
• und so weiter und so fort.

Diese Fragen haben die Betriebsräte auch gestellt. Sie müssen nachvollziehbar beantwortet werden, damit Betriebsrat und Belegschaften diese beraten und Vorschläge zur Änderung unter sozialen und durchaus auch wirtschaftlichen Gesichtspunkten machen können. Denn der Sinn der deutschen und europäischen Mitbestimmung liegt nicht darin, große Würfe auf Powerpoint-Folien zu begutachten, sondern mit der Möglichkeit der ergebnisoffenen Beratung Einfluss auf die Managemententscheidungen auszuüben. Dies ist kein Hemmschuh, sondern eine der Stärken der europäischen Innovationskultur: Die Beteiligten werden einbezogen und können den Prozess der Veränderung mit gestalten. Das kann Fehler vermeiden und kreative Lösungen finden helfen.

Kaum konkrete Details

Allein, dieser Prozess wurde vom Management nicht recht bedacht und geplant. Allenthalben fehlen selbst elementare Zahlen und Fakten, wird mit Projektorganigrammen und Milestones hantiert, anstatt mit sachlicher Information.

Dies ist das eine, eher unerfreulich anmutende, was zum Konzernumbau zu berichten ist.

Weltunternehmer-Struktur - was kommt auf die Regionen zu?

Das zweite, womöglich ebensowenig begeisternde Thema sind die bereits absehbaren Folgen der neuen Weltunternehmer-Struktur, die die Vorfahrtsregeln stark verändert - und zwar zugunsten der Sektor- und Business Unit-CEOs und zu ungunsten der Regionalgesellschaften.

So wurde bekannt, dass das regionale Geschäft, in Deutschland die RD, neu bewertet wird. Und zwar unter der Devise, nur was x% Marge bringt, was weltweit wieder verwertbar oder produzierbar ist, wird Bestand haben. Alles andere, so steht zu befürchten, geht den COM-Weg: Sell or Close; Fix it ist mangels ausreichender Margenerwartung keine Option. Das bedeutet: Die regionalen Portfolien werden aus Weltunternehmersicht neu geordnet, nicht aus regionaler Kundenbeziehung.

Das ist nicht ohne Risiko. Noch ist Europa mit 50% der Umsätze der wichtigste Markt für Siemens. In Deutschland wird deutlich mehr Geschäft mit Kunden gemacht als im gesamten asiatischen Raum, in Bayern so viel wie in China. Dieser hohe Marktdurchdringungsgrad, die enge Kundenbeziehung und die Verbindung mit europäischer Forschung, nicht zuletzt die anspruchsvollen Sozialbeziehungen sind die Basis für nachhaltige Innovationskraft und den Erfolg auf den Weltmärkten. Nur wer in dem anspruchsvollsten europäischen Markt besteht, hat Aussicht ein integrierter  Technologiekonzern zu bleiben. Fokussierter Lösungsanbieter in diesem Markt zu sein, heißt, regionale Besonderheiten geradezu zu suchen - und nicht, sie aus globaler Perspektive und kurzfristiger Margensicht  zu vernachlässigen.

In mehreren Beispielen konnte dies deutlich gemacht werden. Nicht zuletzt die Medizintechnik ist nur deshalb global so erfolgreich, weil sie sich nach Qualität und Portfolio am anspruchsvollsten und schwierigsten, aber eben auch profitablen Markt Europa behaupten musste. Der ist deshalb so spannend, weil er auf dem Prinzip der allgemeinen Gesundheitsversorgung beruht und von daher zwar höchste Qualität, aber auch Kontinuität erfordert. Oder erneuerbare Energien: Erst die gesellschaftliche Entscheidung für nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen in Europa hat die Entwicklung von Solar-, Wind- und Bioenergietechnologien ermöglicht. Diesen Innovationsvorsprung können die Weltunternehmer jetzt global als Mittel gegen Energieknappheit vermarkten. Hätte man sich, wie jetzt allenthalben propagiert, vor zehn oder 15 Jahren nur auf die Märkte mit exponentiellem Wachstum konzentriert, stünde man als Technologiekonzern 2009 ziemlich derangiert da.

Kostendruck auf Vertrieb und Verwaltung

Und auch in den Zentralen geht die Sorge um. Senkung der allgemeinen Vertriebs- und Verwaltungskosten um 20%, das ist eine brutale Vorgabe. Wie sie umgesetzt werden soll, ist leider, auch nach einem Beitrag von Peter Löscher auf einer Münchner Betriebsversammlung, ziemlich unklar; nur dass es 20% sein sollen, das steht scheinbar fest. Ob diese 20% durch Verlagerung von Aufgaben in die Sektoren oder von den BUs in die Sektoren oder durch Zentralisierung und Standardisierung erreicht werden sollen? Man weiß es nicht. Das ist, wie gesagt, weder compliant mit deutschem Recht, noch befriedigend für die Betroffenen.

Gemeinsam Einfluss nehmen!

Gesamtbetriebsrat und Wirtschaftsausschuss, die IG Metall und ihre Betriebsräte bemühen sich nach Kräften, Licht in das restrukturative Dunkel zu bringen. Sie werden Vorschläge machen, was besser anders oder auch gar nicht umgesetzt werden soll.

Die Beschäftigten sind aufgerufen daran mitzuwirken! Wenden Sie sich mit Vorschlägen an Ihren Betriebsrat oder Ihre IG Metall, denn gegen Risiken und Nebenwirkungen kann man etwas tun - man muss nur wollen.